Studieren ohne Augenlicht. Für Sehende ist es schwer, sich das vorzustellen. Seminarräume finden, Literaturrecherche, Fachbücher lesen, in Vorlesungen mitschreiben – wie soll das gehen, wenn man nichts sieht?
Rund 450 blinde Studenten sind in Deutschland immatrikuliert. Einer von ihnen ist Christian Ohrens. Der 22jährige studiert im fünften Semester Medien- und Kommunikationswissenschaft in Hamburg. Bei der Studienberatung wurde Christian von diesem Studienfach abgeraten, da es sehr visuell ausgerichtet ist. Davon hat er sich zum Glück nicht abschrecken lassen. Schließlich ist die heutige Gesellschaft und Wahrnehmung visuell dominiert und Christian musste sich als Blinder von Geburt an darin zurechtfinden. Für ihn ist das also nichts Neues. Zum Studium mit Medienfokussierung hat ihn in erster Linie seine Radiobegeisterung gebracht. Seit seiner Schulzeit moderiert er eigene Musiksendungen bei kleineren Sendern und im Internetradio und schreibt CD-Kritiken. Da entstand der Wunsch, das auch beruflich zu machen.
Medienwissenschaftler untersuchen aber nicht nur das Medium Radio. Genauso gehört es zu Christians Stundenplan, Spielfilme anzusehen und zu analysieren. Aber sagt man überhaupt „Filme sehen“? „Na klar“, gibt Christian zurück, was soll man sonst sagen?“ Es heißt ja auch „Auf Wiedersehen“ oder „Schau’n wir mal“. Diese Wendungen sind einfach Teil des Sprachgebrauchs. Wenn Christian Filme sieht, muss er sich konzentrieren. Während er auf den Ton hört, beschreibt ein Kommilitone ihm zugleich, was auf der Leinwand vor sich geht, in welchen Einstellungen die Szenen aufgenommen sind und den Rhythmus der Schnitte. Die Behinderung behindert also im Studium nicht wirklich, sondern erfordert nur andere Wege.
Und oft nicht einmal das. Auf die Frage, wie er denn die Literaturrecherche angehe, reagiert Christian mit einer Gegenfrage: „Wie machst du das denn?“ Im Online-Katalog der Unibibliothek recherchieren, dann das Buch ausleihen – also so wie jeder Student. Der einzige Unterschied: Christian scannt die Seiten ein, der Computer gibt ihm den Lernstoff per Sprachausgabe oder als tastbare Braille-Zeile in der Blindenschrift wieder aus. Mitschriften macht er mit seinem kleinen Taschencomputer. Klausuren ersetzt Christian meist durch mündliche Prüfungen. Seminarräume findet er nicht immer auf Anhieb – aber das geht im 13-stöckigen Uni-Turm auch seinen sehenden Kommilitonen nicht anders. Jedes Stockwerk, jeder Gang und jede Tür sehen nämlich gleich aus. Hausarbeiten schreibt Christian schon mal in drei Tagen, wenn er den Rest der Ferien frei haben will. Auch einem Studentenjob geht er nach: Mehrmals pro Woche arbeitet er in der Ausstellung, „Dialog im Dunkeln“, wo Blinde Sehende durch völlig abgedunkelte Räume führen, um ihnen eine Vorstellung von den Sinneseindrücken blinder Menschen zu vermitteln.
Für ein paar Stunden steht Christian auch eine Vorlesekraft zu, aber die benötigt er oft nicht, weil das Einscannen der Texte und die Hilfe, die er von Dozenten und Kommilitonen bekommt, meist ausreichen. Auch ist er eher der selbstständige Typ. So hat er auch das Mobilitätstraining, bei dem ihm nach seinem Umzug nach Hamburg die wichtigsten Wege in der Stadt und auf dem Campus gezeigt wurden, vorzeitig beendet und die Erkundungen lieber auf eigene Faust fortgesetzt.
„Wege, die ich mir selbst erschlossen habe, merke ich mir leichter“, sagt Christian. „Für mich wäre es eher eine Einschränkung, als eine Erleichterung, wenn ich jeden Weg, den ich machen will, vorher erst mit jemandem abgehen müsste. So kann ich viel spontaner sein.“
Auf dem Campus führt ein Wegenetz von Gebäude zu Gebäude, das mit dem Blindenstock gut ertastbar ist – auch wenn die Pflasterstreifen häufig für Fahrradwege gehalten werden. In einer Großstadt wie Hamburg gibt es natürlich noch andere Hindernisse. „Aber ich bin kein Mensch, der ständig meckert. Das kostet zu viel Energie. Klar könnte vieles noch besser sein. Aber das Gleiche gilt doch auch für Sehende, oder?“ kommentiert Christian.
Fragt man Christian nach Hürden, die ihm im Alltag begegnen, überlegt er lange. „Eigentlich fallen mir keine ein“, sagt er. „Das Hauptproblem ist, dass viele nicht fragen. Aus Unsicherheit, oder weil es ihnen peinlich ist. Wenn ich an einer Straße stehe, würde es mir aber helfen, wenn mich jemand anspricht. Ob ich Hilfe brauche, sage ich dann schon. Ich sehe ja nicht, ob neben mir jemand steht, den ich um Hilfe bitten könnte.“ Fragen – das ist für Christian fast eine Lebensphilosophie: „Fragen bedeutet ein Stück Selbstständigkeit.“ Das gilt nicht nur für Christian. Denn oft ist es auch für die anderen befreiend, einfach auf den Blinden zuzugehen und die eigene Unsicherheit offen zu legen, statt bei jeder Begegnung neu ins Schwitzen zu kommen. „Ich merke sofort, wen jemand unsicher ist“, sagt Christian. Die Stimme kann man nicht verstellen.
Ein Wort sagt mehr als tausend Blicke.“ Und wenn das Gegenüber sich nicht traut, nimmt Christian das im Zweifel selbst in die Hand. So hat er einmal eine Dozentin angesprochen, von der er den Eindruck hatte, dass sie nicht richtig wisse, wie sie mit ihm umgehen soll. Sein Eindruck hatte sich bestätigt – und nach dem Gespräch liefen die Seminare bei der Dozentin viel besser.
Durch solche Offenheit lassen sich viele Missverständnisse schnell klären. Mit dieser Einstellung kommt Christian besser durchs Studium, als so mancher Bummelstudent, der auch im fünften Semester noch nicht weiß, wie man den Bibliothekskatalog richtig benutzt oder wie man kluge Fragen stellt.
(Autorin: kat)
Quelle: Unister-Studentenportal
Anmerkung: die Regionen im Hirn, die ursprünglich dem Sehsinn und der Verarbeitung für Sehinformationen vorbestimmt waren, werden bei einem Blinden und Sehbehinderten von dem taktilen Sinnessystem übernommen und genutzt !
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