Donnerstag, 28. November 2013

Medizin in der Krise

 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/97/Arzneimittel_in_der_Umwelt.png
Arzneimittel

entnommen aus:

3sat.de
 
Die moderne Medizin kann viele Erfolge vorweisen und Leben retten, keine Frage. Trotzdem sind viele Heilsversprechen mittlerweile ökonomischen Interessen geschuldet. 
  • Der medizinische Overkill verschlingt Unsummen, doch gesünder macht er uns keineswegs. 
Was ist los mit unserer Medizin?
  • Patienten kommen nach Operationen immer früher aus dem Krankenhaus. 
  •  Manche werden bereits nach Hause entlassen, obwohl die Wunden noch nicht verheilt sind oder sie sich nicht allein versorgen können. 
Von "blutiger Entlassung" sprechen Kritiker.

Je früher die Kliniken die Patienten nach Hause schicken, desto mehr Kosten können sie sparen. 

http://bilddung.files.wordpress.com/2013/02/blutige-entlassung-patientenfabrik.gif
  •  Bleibt die Gesundheit der Patienten dabei auf der Strecke ? 
  • (Notiz: ... eine sehr rhethorische Frage => das Ziel der Klinikleitungen war schon immer, die Aufenthaltszeit der Patienten zu verkürzen und die Fluktuaktion zu erhöhen, entweder um den Gewinn zu steigern oder die Klinik aus wirtschaftlichen Gründen zu retten => allerdings ist das stark hierarchisch gegliederte medizinische Fachpersonal - aufgeteilt in Forschung und direkter Arbeit am Patienten - an der Entwicklung schuld, weil sie die ersten sind, die auf die Straße gehen müssten, um das System zu ändern ... allerdings waren sie aber auch die ersten, die dieser inhumanen Entwicklung Vorschub geleistet haben, indem sie die Hand, wo immer es möglich war, aufgehalten haben, um der Pharmazeutischen Industrie und den Interessensverbänden zu dienen und sich von ihnen füttern zu lasssen ...)
Das Fallpauschalen-System und seine Folgen sind ein Thema von "wissen aktuell: Medizin in der Krise" am Donnerstag, 28. November 2013, 20.15 Uhr.
  • In verschiedenen Beiträgen hinterfragt die Sendung das deutsche Gesundheitssystem und macht auf die Folgen für die Patienten aufmerksam. 
http://antikunst.blogsport.de/images/blutigeEntlassung.jpg


 Nutzlose Medikamente
 
Neue Arzneimittel kosten in der Regel mehr als bewährte alte Präparate.
  • Ihr Nutzen ist außerdem unzureichend erforscht
Dennoch sorge das Marketing der Pharmafirmen dafür, dass Ärzte diese Mittel besonders oft verschreiben, kritisieren Experten.
 
Christiane Joswig ist Stammkundin in der Apotheke, schon seit den 1990er Jahren.
  • Seit 20 Jahren nimmt sie Tabletten gegen Schilddrüsenprobleme, Diabetes und Bluthochdruck - und ist damit eine typische Diabetes-Patientin.
Denn wie viele Diabetiker leidet sie an mehr als einer Erkrankung.
  • Vier bis fünf Sorten von Tabletten täglich einzunehmen, daran hat sie sich gewöhnt. 
  • Allein gegen Diabetes waren es über die Jahre neun verschiedene Mittel, bis sie schließlich eins findet, das sie gut verträgt. 
Seitdem spürt Joswig kaum mehr Nebenwirkungen, und auch ihre Blutzuckerwerte sind recht stabil.

Die Diabetikerin ist damit zufrieden, doch ihrer Ärztin reicht das nicht.
  • Irgendwann drängte die Medizinerin, "dass ich ein neues Medikament ausprobiere, was in Deutschland noch ganz frisch auf dem Markt war", berichtet Joswig. 
  • Der neue Wirkstoff Exenatide würde ihre Zuckerwerte stark verbessern, verspricht die Ärztin. 
Doch Christiane Joswig traut dem nicht, schließlich geht es ihr gut.

(Notiz: ... kennt man zur Genüge ... Ärzte erhalten ein Angebot eines Pharmaunternehmens... ein Formular mit ein paar Parametern zum Ausfüllen ... fehlen nur noch das Versuchskaninchen Patient ...)

http://www.taz.de/uploads/images/624/Privatversicherung.20101205-19.jpg


 Viele Ärzte vertrauen der Pharmawerbung
 
Professor Wolf-Dieter Ludwig, Chef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Krebsmediziner, beobachtet seit Jahren Ärzte, die ihre Patienten auf neue Medikamente umstellen, obwohl deren Nutzen oft fragwürdig ist.  Ludwig:
  • "Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 30 bis 40 neue Wirkstoffe zugelassen, etwa 80 Prozent dieser neuen Wirkstoffe stellen keinen therapeutischen Fortschritt dar." 
Diese Präparate seien nicht besser als die Medikamente, die sich bereits auf dem Markt befinden.
  • "Das Problem ist, dass diese neuen Arzneimittel, die einen geringen Nutzen haben, sehr stark beworben werden, und die Ärzte glauben viel zu häufig diesen Versprechungen anstatt sich kritisch die Studien anzusehen und zu überlegen ob diese neuen Arzneimittel wirklich besser sind als die bereits verfügbaren." 
Auch der Pharmakologe und Arzt Wolfgang-Becker-Brüser kritisiert die unzureichenden Ergebnisse zum Nutzen der Medikamente.
  • Der Herausgeber von Deutschlands größter unabhängiger Fachzeitschrift für Arzneimittel beschäftigt sich seit rund 35 Jahren mit Medikamentenstudien. 
In seinen Augen dürften viele neuere Antidiabetika gar nicht zugelassen sein:
  • "Arzneimittel gegen Diabetes werden üblicherweise zugelassen, weil sie den Blutzucker senken, das sagt aber über den Nutzen, den der Mensch von dem Arzneimittel hat, überhaupt nichts aus", 
bemängelt der Experte.
  • "Man will weniger Schlaganfälle, weniger Herzinfarkte, die Nerven und die Augen sollen nicht so geschädigt werden, wie es bei Diabetikern langfristig häufig der Fall ist, und das ist für die neueren Stoffe eben nicht belegt."
Die überdimensionierte Vielfalt
 
an Interaktionen der Wirkstoffe
  http://www.pharmazeutische-zeitung.de/fileadmin/images/Beitraege/pha0647T1.JPG

(Notiz: ... die Pharmazie hat die Ärzteschaft und Mediziner fest im Griff ... kein Genie auf dieser Welt kann die Anzahl der Kombinationsmöglichkeiten an Indikationen, Kontraindikationen, Wechsel- und Nebenwirkungen vorhersehen, geschweige denn engmaschig kontrollieren, protokollieren und begleiten ... allein der Organismus, über Jahrmillionen gewachsen, versteht es, die Wirkstoffe bis zu einer begrenzten Applikation in Balance zu halten ... aber die "Götter in Weiß" sind ja über alles erhaben, denn im Studium hat man ihnen nicht beigebracht, dass der Mensch Fehler machen kann ... darüberhinaus hat man auch ihnen nicht vermittelt, wie man gemeinsam ein System verbessern kann, wo immer mehr Fehler durch wirtschaftlichen Druck und durch vermehrten Stress passieren, die man verständlicherweise auch zu verantworten hat ...)


Exenatide hat gefährliche Nebenwirkungen
 
Die Patienten ahnen davon meist nichts. Christiane Joswig allerdings informierte sich in ihrer Apotheke und erfuhr dort, dass das neue Mittel umstritten ist.
  • Nicht nur wegen des Nutzens, sondern wegen gefährlicher Nebenwirkungen
  • Trotzdem habe ihre Ärztin sie weiter zur Umstellung gedrängt, erzählt Joswig. 
Sie recherchierte schließlich im Internet und las dort, dass durch Exenatide Bauchspeicheldrüsenentzündungen und Krebs entstehen können.
  • Und sogar Todesfälle unter diesem Medikament passiert sind.
http://www.zentrum-der-gesundheit.de/images/titelbild/tod-durch-medikamente-ia.jpg

Arzneimittelexperte Becker-Brüser kennt die entsprechenden Studien.
  • Der neue Wirkstoff Exenatide sei nur einer von vielen neuen Antidiabetika mit schweren Nebenwirkungen, sagt er. 
Ein anderes Beispiel: Rosiglitazon.
  • Während dieser Wirkstoff aufgrund negativer Forschungsergebnisse inzwischen nicht mehr verschrieben wird, sind die Untersuchungen zu Exenatide noch nicht abgeschlossen.
Aber Becker-Brüser befürchtet, dass hier nur mit ähnlichen Konsequenzen Schaden für die Patienten vermieden werden kann:
  • "Wenn man bedenkt, dass der langfristige Nutzen noch gar nicht geklärt ist, dann wiegt es um so schwerer, dass bedrohliche unerwünschte Wirkungen auftreten können. 
  • Rosiglitazon beispielsweise senkte den Blutzucker, es wurde trotzdem vom Markt genommen, weil es die Menschen schädigte, und zwar hat es mehr Herzinfarkte ausgelöst, mehr Herzinsuffizienz."
Cardioprotective effects of exenatide 

against oxidative stress-induced injury

http://www.spandidos-publications.com/article_images/ijmm/32/5/IJMM-32-05-1011-g06.jpg

(Notiz: ... ein typisches Beispiel ... der neue Wirkstoff Extanide besitzt zwar "kardio-muskuläre Schutzfunktion", soll aber im Endeffekt als Antidiabetikum dienen, ... bekämpft es aber auch die vielfältige Ursachen von Diabetes ? ... so prasselt es von allen Seiten auf den Arzt an Informationen der Pharmaindustrie ein + Verlockungen => am Ende ist die Filterfunktion ärztlichen Verantwortungsbewusstseins zerstört ... die Pharmaindustrie hat die Ärzte dort, wo sie sie haben will, nämlich als "Pillenverkäufer" und Handlanger ...)


Langfristige Untersuchungen fehlen
 
Natürlich kann es bei neuen Mitteln noch keine Langzeiterfahrungen geben.
  • Aber auch wenn ein Wirkstoff schon etabliert ist, gibt es viel zu selten aussagenkräftige Nutzen-Risiko-Bewertungen. 
Das kritisiert auch der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Ludwig:
  • "Wir bräuchten eigentlich nach der Zulassung bei vielen dieser neuen Medikamente langfristige Untersuchungen. Pharmazeutische Unternehmen führen diese Studien nicht durch, zum einen weil sie viel Geld kosten und zum anderen weil sie natürlich an den Ergebnissen, die möglicherweise negativ sind für ihre Wirkstoffe, nicht interessiert sind."

 Medikamente, die Leid bekämpfen

aber neues verursachen

http://www.ich-sag-das.de/wp-content/uploads/Arzneimittelausgaben-2011-Barmer3.jpg

Obwohl es oft nur wenige Erkenntnisse zu Nutzen und Risiken gibt, werden neue Medikamente offensiv beworben, bemängeln die Experten Ludwig und Becker-Brüser. Genau davon, sagt Pharmakologe Becker-Brüser, lassen sich viele Ärzte offenbar beeinflussen:
  • "Die großen Firmen der pharmazeutischen Industrie geben doppelt so viel Geld aus für das Marketing wie für Forschung." 
Das Marketing schlage sich im Preis nieder.
  • "Die neueren Antidiabetika sind um ein Vielfaches teurer als die bewährten älteren Mittel."
https://presse.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Infothek/Bildmaterial/Infografiken/Arzneimittelreport/Bilder-Arzneimittelreport-2010/ATC-Gruppen,property=Data.jpg


Patienten sollten kritisch nachfragen
 
Christiane Joswig wechselte schließlich notgedrungen die Ärztin und blieb bei ihren bewährten Medikamenten.
  • So kritisch reagieren aber nur wenige Patienten. 
Dabei empfehlen Experten in jedem Fall nachzuhaken.
  •  "Sie sollten den Arzt fragen, wie viele Studien wurden durchgeführt, und gibt es gute Beweise, dass dieser neue Wirkstoff wirklich besser ist als die bereits zugelassenen Arzneimittel", 
sagt Ludwig.

(Notiz: ... ist klar: ich hake nach und der Arzt erzählt mir etwas vom Pferd ... wie soll da der Laie zwischen Wahrheit, Vermutung, Schutzbehauptungen und Lügen unterscheiden ? ...)

Da die meisten neuen Präparate zu Nutzen und Sicherheit noch nicht abschließend untersucht sind, bekommen neu zugelassene Mittel ab Herbst 2013 als Erkennungssymbol ein auf dem Kopf stehendes schwarzes Dreieck im Beipackzettel.
  • Denn neu ist eben nicht immer automatisch gleich wirksamer und sicherer
Christiane Joswig hat ihre Strategie gegen den Diabetes gefunden.
  • Statt sich nur auf Medikamente zu verlassen, macht sie regelmäßig Sport
Wie Studien klar belegen, senkt das die Sterblichkeit von Diabetikern um etwa 38 Prozent, je nach Begleiterkrankungen sogar um bis 50 Prozent.

Diabetes und Sport

http://www.ulrikethurm.net/images/sport01.gif


Ärzte als Pillenverkäufer
 
Ärzte sollten Patienten nach bestem Wissen und Gewissen behandeln - und zwar ohne finanzielle Hintergedanken.
  • Das tun bestimmt auch viele. 
Doch es häufen sich Fälle, wo niedergelassene Ärzte mit Tricks ihre Praxiskasse aufbessern und so wissentlich gegen die Berufsordnung verstoßen. Wie?
  • Indem sie das Vertrauen ihrer Patienten ausnutzen und an ihnen z. B. mit dem Verkauf von Pillen verdienen

 Lukrativer Nebenverdienst
 
Der Dialyse-Arzt Thomas Lindner ist sauer auf raffgierige Kollegen, die bei ihren Patienten abkassieren.
  • Denn viele Ärzte haben offenbar eine neue Einnahmequelle entdeckt.  
Sie verkaufen in ihren Praxen Pillen.
  •  "Also das ist einer der Gründe, warum wir in der Öffentlichkeit als Berufsgruppe mit den Raffkes gleichgesetzt werden, und das ärgert mich sehr. Patienten berichten mir, dass sie von ihren Ärzten unter Umständen Aufbau- oder Vitaminpräparate bekommen und das ist nicht legal, wenn Ärzte so etwas in ihrer Praxis verkaufen"
ärgert sich Thomas Lindner.

Auch in Internetforen beschweren sich zahlreiche Patienten über Ärzte als Pillenhändler. Die Masche scheint weit verbreitet.
  •  "Sie will leider nur Medikamente verkaufen"
heißt es da in einer Bewertung, oder  
  • "Vorsicht Pillenverkäufer."
Ärzte, die so etwas tun, nutzen gezielt das Vertrauen ihrer Patienten aus, meint Prof. Rolf Rosenbrock, bis 2009 Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung:
  • "Der Arzt weiß im Zweifel immer besser über Gesundheit und was man dafür tun kann Bescheid als der Patient. Und wenn der Arzt diese Autorität nutzt, um private Geschäfte zu machen, handelt er mit Sicherheit standeswidrig. Nicht umsonst steht in der Berufsordnung der deutschen Ärzte der Satz: Der Arztberuf ist kein (!) Gewerbe."
http://www.auw.de/uploads/2013/11/aw-AuW_Titelseite.png
auw.de
 
(Notiz: ... und doch ist trotz aller gegenteiligen Beteuerungen und Beschwichtigungen der Arztberuf ein Gewerbeberuf par excellence geworden, denn das Selbstverständnis sich ausschließlich auf die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Heilungsprozesse zu konzentrieren, ist verloren gegangen, seitdem wirtschaftliche Prozesse sich in den Vordergrund geschoben haben und den Berufsalltag bestimmen ...)

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(Notiz: ... die obige Statistik ist sicherlich geschönt ... die Wochenarbeitzeit beträgt wohl deutlich über 60 Stunden, das gilt auch für Lehrerberufe und andere, in denen die Vorbereitung und Nachbereitungen unter den Tisch fallen und nicht bezahlt werden ...)

Kranke werden zu Kunden
 
Laut Berufsordnung ist der Pillenhandel sogar verboten. Ausdrücklich heißt es: "Ärztinnen und Ärzten ist untersagt, im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer ärztlichen Tätigkeit Waren und andere Gegenstände abzugeben oder unter ihrer Mitwirkung abgeben zu lassen". Dass es trotzdem geschieht, zeigt der Besuch in mehreren Arztpraxen. Erstes Beispiel ist eine Frauenärztin in Berlin-Mitte. Die Patientin klagt am Empfangstresen über allgemeine Abgeschlagenheit. Ohne vorherige Untersuchung wird ihr ein Multivitaminpräparat verkauft. 180 Tabletten für 66,70 Euro in bar.

So werden Kranke immer mehr zu Kunden, bestätigt auch Prof. Rolf Rosenbrock: "Schon heute haben ein Viertel der Patienten, die eine Arztpraxis betreten, Angst davor, dass sie vom Arzt in irgendeiner Art und Weise übervorteilt werden. Das heißt nicht nur als Träger von Symptomen und als zu heilende oder zu unterstützende Menschen angesehen werden, sondern gecheckt werden unter dem Kriterium, was kann ich daran verdienen?"

Wie viel genau Ärzte mit dem Pillenhandel verdienen können, will Thomas Lindner für uns herausfinden. Im Internet nimmt er Kontakt zu mehreren Herstellern auf, und gibt sich als Interessent aus. Schon ein paar Tage später bekommt er Proben zugeschickt und eine detaillierte Preis- und Margenliste: "Da ist auch schon für die Ärzte ausgerechnet, wie viel sie da verdienen können, wenn sie ihren Patienten das verkaufen und es ist eigentlich durchgängig eine Marge von 50 bis 60 Prozent. Das ist wirklich bei jedem Medikament so, 50 bis 60 Prozent, also da kann der Arzt richtig absahnen."
 

Mit Tricks durch rechtliche Grauzone
 
Dass sich diese Geschäfte im Graubereich abspielen, wissen natürlich alle Beteiligten. Thomas Lindner erkundigt sich telefonisch bei einem der Hersteller, wie sich die Berufsordnung austricksen lässt: „Gibt es da jetzt von ihnen Vorschläge, wie das zu machen wäre?" Die gibt es. Der Hersteller leistet bereitwillig Hilfestellung, das Verbot des Pillenhandels zu umgehen, und Thomas Lindner fragt nach: "Also das könnte irgendwie ein Angehöriger sein, der das Gewerbe anmelden müsste. Und der macht dann sozusagen den Verkauf, und dass das in meinen Räumen stattfindet, das ist dann nicht das Problem, meinen sie?"

Wie so etwas funktioniert, zeigt ein zweiter Praxistest. Diesmal empfiehlt die Ärztin persönlich die Pillen. Allerdings wieder ohne die Patientin gründlich zu untersuchen. Den Verkauf wickelt dann die Sprechstundenhilfe ab. 90 Tabletten kosten diesmal 37,30 Euro. Auch im Internet geben die Hersteller ausführlich Tipps, wie der Pillenhandel organisiert werden kann. Eine Empfehlung ist die Gründung eines praxisparallelen Gewerbes. Das könnte zum Beispiel von der Ehefrau des Arztes betrieben werden.
 

Pillenhandel schädigt auch Ruf ehrlicher Ärzte
 
Dr. Ilona Köster-Steinebach vom Bundesverband der Verbraucherzentralen sieht darin den eindeutigen Versuch, das Verkaufsverbot für Ärzte zu umgehen: "Sicherlich geht es darum, an dieser Stelle Tricks aufzuzeigen, wie man an dem Geist der Berufsordnung vorbei kommt, wie man mögliche Schlupflöcher ausnützt. Und es wäre an der Ärztekammer, diese vielleicht noch vorhandenen Schlupflöcher zu schließen, aber vor allen Dingen auch ganz klar gegen die Ärzte vorzugehen, die gegen den Geist der Berufsordnung an dieser Stelle verstoßen." Doch wegen Pillenhandel wurde im vergangenen Jahr nur in zwölf Fällen ermittelt, ohne messbaren Erfolg.

Dr. Elmar Wille von der Berliner Ärztekammer belässt es bisher bei allgemeinen Erklärungen: "Wir sind ja keine Polizei. Wir können ja nicht wie die Strafjustiz vorgehen, da gibt es also juristisch ein bisschen mehr Einengung, aber im Prinzip wird ermittelt und auch sanktioniert. Aber in so einem Fall ist bisher noch nie eine Geldbuße erteilt worden."

Leidtragende des Pillenhandels sind neben den geschröpften Patienten die ehrlichen Ärzte. Aufgrund der Raffke-Mentalität einiger Kollegen leidet auch ihr Ruf.


Riskante Rezepte
 
Viele Schmerzmittel, Psychopharmaka oder Rheumapräparate können eine Gefahr sein – besonders für ältere Menschen. Jeder fünfte Patient über 65 nimmt ein solches Präparat ein. Doch vielfach drohen schwere Komplikationen. Nach vorsichtigen Schätzungen sterben in Deutschland mehr als 20.000 Menschen jährlich durch die unkoordinierte Behandlung mit Arzneimitteln.
 
Mal ist das einzelne Medikament das Problem, häufig der Cocktail verschiedenster Mittel. Es gibt ältere Menschen, die schlucken 20 Tabletten und mehr am Tag. Selbst ein junger, gesunder Mensch würde das kaum verkraften. Doch im Alter baut der Körper Medikamente noch schlechter ab. Die Wirkungen verstärken sich, und die Nebenwirkungen auch.
Wechselwirkungen: unbekannt

Viele Fachärzte interessiert das wenig. Jeder Spezialist behandelt das Organ, für das er zuständig ist. Am Ende werden betagte Patienten mit einer Liste von 12, 15 oder mehr Medikamenten wieder nach Hause geschickt. Wechselwirkungen: unbekannt. Die Autoren Martina Keller und Norbert Hahn sprechen mit Menschen, die durch Medikamente in Lebensgefahr gerieten, fragen Hausärzte, wie sie das richtige Maß für ihre alten Patienten finden, besuchen ein Heim, das Ruhigstellen nicht mehr nötig hat, konfrontieren die Pharmaindustrie mit ihren Versäumnissen und fragen Politiker, warum sie die Hersteller nicht in die Pflicht nehmen.


Behandlungsfreiheit oder Geldschneiderei?
 
Bei High-Tech-Medizin ist Deutschland immer vorne mit dabei. Doch viele neue Verfahren haben einen Schönheitsfehler: Sie sind experimentell. Oft ist gar nicht belegt, dass sie für Patienten besser sind, als günstige und sichere Standardverfahren. Erschreckend, aber wahr: In Krankenhäusern sind deutsche Patienten immer wieder Versuchskaninchen für teure High-Tech-Medizin.

Diese fehlende Kontrolle heißt in Deutschland schönfärberisch "Behandlungsfreiheit". Florian Lanz vom Spitzenverband Gesetzliche Krankenversicherung erklärt: "Es ist ein Kernproblem in Deutschland, die Krankenhäuser können grundsätzlich einsetzen, was sie für richtig halten. Es gibt kein Zulassungssystem, ähnlich wie bei Arzneimitteln zum Beispiel. Das gibt es in Krankenhäusern schlicht und ergreifend nicht."
 

Aufstieg und Fall eines Roboters
 
Welche Gefahren damit verbunden sind zeigte Robo-doc. Der Fräsroboter für medizinische Eingriffe kam aus den USA. Dort durfte er zunächst gar nicht eingesetzt werden. Man wartete die Ergebnisse aus Deutschland ab. Hier war er für zwei bis drei Jahre beim Fräsen von Kanälen für Hüftgelenkprothesen ein Star. Doch dann kamen die Klagen. Hunderte Patienten zogen vor Gericht wegen anhaltenden Operationsschmerzen. Da wurde das High-Tech-Gerät eben einfach wieder aus dem Verkehr gezogen.
 

Versuchsfeld Krankenhaus

Georg Baum von der Deutschen Krankenhausgesellschaft hält Kontrolle trotzdem für überflüssig, ja sogar für schädlich: "Wir können nicht jede Form der Weiterentwicklung von Operationstechniken und medizinischen Verfahren erst einer Überprüfung durch einen gemeinsamen Bundesausschuss unterziehen. Wenn wir das machen würden, würden wir die Medizin ausbremsen." Das Bundesgesundheitsministerium, zu einem Interview nicht bereit, teilt schriftlich mit, man sehe kein Problem - schließlich gäbe es im Krankenhaus ja "die gegenseitige kollegiale Kontrolle bei Indikationsstellung und Therapieplanung." Aber Krankenhäuser sind auch Wirtschaftsunternehmen, und mit High-Tech-Verfahren lässt sich einfach mehr Geld verdienen, als mit Standardmethoden. Die Versuchung ist groß.
 

High-Tech gehört in die Hände von Spezialisten
  
Fachgesellschaften und Krankenkassen fordern, dass zumindest nicht mehr jeder die umstrittenen Methoden anwenden darf. Florian Lanz: "Wir wollen, dass neue Methoden an spezialisierten Zentren angeboten werden können, damit einerseits die Versicherten schnell und gut versorgt werden können, auch mit Innovation, das ist wichtig. Aber dass nicht jedes Wald- und Wiesenkrankenhaus so eine Operation jemandem antun darf." Die Krankenhausgesellschaft sieht das mittlerweile auch so.

Das Gesundheitsministerium hingegen reagiert auf die neuen Verfahren mit einem Schwall bürokratischer Floskeln: "Es bleibt zu prüfen, ob es zukünftig spezielle Regelungen (...) geben sollte, um deren Einführung und Erprobung mit flankierenden Maßnahmen wie z.B. Vorgaben zur Leistungserbringung (...) verbindlich zu versehen." Alles klar? Den Patienten würde hier eine klare politische Entscheidung helfen. 


Herzklappe: Kasse machen mit High-Tech
 
Bei Herzklappen-Operationen wird immer öfter die minimalinvasive Methode eingesetzt. Doch das ist nicht ohne Risiko für die Patienten. Günter G. wurde 2008 eine neue Herzklappe eingesetzt - mit einer angeblich schonenden, neuen Methode. Doch bei der Ultraschall-Kontrolle nach dem Eingriff zeigen sich schwere Komplikationen.
 

Neues Verfahren - erhöhtes Risiko
 
Günter G. erinnert sich: "Man hat mir versprochen, dass das ganz einfach wäre, ganz leicht wäre und schnell gehen würde. Ich würde schnell wieder entlassen werden. Das war ja auch alles der Fall. Nur dass sich nachher rausstellte, die Klappe ist nicht dicht." Die neue, minimalinvasive Katheter-Technik ist noch weit davon entfernt, als sicher bezeichnet zu werden.

Das Risiko, beim konventionellen OP-Eingriff mit Öffnung des Brustraums zu versterben, liegt bei gerade mal 2,4 Prozent. Beim vermeintlich harmlosen Katheter-Verfahren bei 9 Prozent – fast das Vierfache. Grund hierfür ist auch die Dichtigkeit der Klappen. Während es beim konventionellen Verfahren bei weniger als 2 Prozent zu Undichtigkeiten kommt, seien es beim Katheter über 40 Prozent, so die Fachärzte. Trotzdem werden immer mehr Patienten mit der neuen gefährlichen Methode behandelt.
 

Operation ist eine attraktive Hausnummer
 
Die Gründe dafür sind offenbar nicht nur medizinischer Art. Es geht auch ums Geld. Prof. Hermann Reichenspurner, Herzchirurg am Herzzentrum Hamburg: "Da spielen viele Dinge mit: Profil, Portfolio der Praxis und letztendlich natürlich auch finanzielle Rückerstattung, die bei so einer Entscheidung mit eine Rolle spielen." Und sein Kollege Prof. Thomas erklärt: "Das muss man ganz klar sagen: Es wird relativ gut honoriert. Und die Institution, die die Klappen implantiert, hat dadurch auch finanziellen Gewinn. Im Moment ist das erst mal im Vergleich zur offenen Operation eine attraktive Hausnummer, die da im Raum steht." 35.000 Euro - im Gegensatz zu 13.000 Euro bei der konventionellen Operation.
 

Alte Klappe bleibt im Körper
 
Dabei hat sich die konventionelle Operation über Jahrzehnte als sicher erwiesen: Der Arzt kann Kalkablagerungen und die alte Klappe sauber herauslösen, bevor er die neue einsetzt. Beim kathetergestützten Eingriff dagegen ist schon der Weg durch die Gefäße ein Risiko: In 80 Prozent der Fälle kommt es zu gefährlichen Ablösungen von Gefäßmaterial. Im Herz sprengt der Ballonkatheter die alte Klappe dann einfach zur Seite.

Prof. Reichenspurner: „Es kann viel mehr passieren wie bei einer normalen Klappenoperation, weil man nicht über alles die maximale Kontrolle hat. Ein Risiko: Sie lassen ja die alte Klappe drin. Sie drängen sie mit dem Ballon sozusagen an die Wand. Es sind Fälle beschrieben, wo die Kalkbrocken, die in der Klappe hängen, gegen den Abgang der Herzkranzgefäße drückten und dann ein akuter Herzinfarkt entstand.“
 

Je kleiner, um so anfälliger
 
Prof. Friedrich-Wilhelm Mohr von der Deutschen Gesellschaft für Herzchirurgie: "Wir können sagen, dass fast die Hälfte der Patienten mit den kathetergestützten Verfahren – es ist unterschiedlich von Klappe zu Klappe – eine Undichtigkeit aufweist. Das heißt, es besteht ein Grad eins bis zwei Undichtigkeit am Klappenrand oder innerhalb der Klappe." Außerdem weiß man bei den neuen Klappen nicht, wie lange sie eigentlich halten. Um sie durch die Gefäße zu schieben, werden sie auf vier Millimeter zusammen geschrumpft – bevor die Ärzte sie im Herz entfalten. Prof. Mohr: "Weil man sie so klein zusammendrücken muss, damit man sie überhaupt über den Katheter reinkriegt, ist klar, dass dieses Gewebe Schaden nimmt. Und je mehr man schrumpft, umso kaputter gehen die."
 

Wie sieht es mit der Haltbarkeit aus?
 
Prof. Hermann Reichenspurner gibt außerdem zu bedenken: "Bei diesen komplett neuen Klappen wissen wir über die Haltbarkeit gar nichts." Die Fachgesellschaften empfehlen den Katheter-Einsatz darum nur bei Patienten, die durch schwere Vorerkrankungen eine konventionelle Operation nicht überstehen würden. Günter G. gehörte nicht zu dieser Gruppe. Er hätte sehr gut und sicher mit der konventionellen Operation behandelt werden können. Und er ist kein Einzelfall. Im Jahr 2009 wurden gut 12.000 Herzklappen konventionell eingesetzt - bereits 2200 per Katheter. Und die Krankenkassen meldeten 2010 rasant steigende Zahlen.
 

60 Prozent der Fälle zählen nicht zur Risikogruppe
 
Georg Baum von der Deutschen Krankenhausgesellschaft sieht hier kein Problem: "Die minimalinversen Eingriffe werden ja nur den Patienten angediehen oder finden nur bei den Patienten statt, für die eine große Herzoperation eine zu große Belastung wäre." Doch die Leistungsstatistik der Herzchirurgischen Gesellschaft, die im Oktober 2009 veröffentlicht wird, zeichnet ein anderes Bild. Der Katheter-Eingriff wurde demnach häufig bei Patienten vorgenommen, die nicht zu einer der definierten Risikogruppen gehören. Insgesamt bei fast 60 Prozent der Fälle.

Das bemerkt auch Prof. Mohr: "Es ist auffällig, dass viele Patienten behandelt worden sind, die entgegen der Empfehlung zu jung sind, und dass sie ein zu niedriges Risikoprofil haben, um mit diesen neuen Verfahren behandelt zu werden." Wie Günter G. Er hat die schweren Komplikationen nach dem Kathetereingriff überlebt. Doch er musste eine zweite Herzklappen-Implantation über sich ergehen lassen: Diesmal erfolgreich - mit der konventionellen OP.


Teurer Boom - fragwürdiger Nutzen?
 
Die Kontrolleure der modernen Medizintechnik sitzen im Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG). Im Bereich Gesundheitswesen erstellt das Institut Empfehlungen für die Politik. Geprüft werden auch Körperscans mit dem PET-CT, vor allem bei verschiedenen Krebsformen. Die Berichte sind skeptisch: Meist "unklar" sei der Nutzen der High-Tech-Bilder. Auch deshalb müssen die Krankenkassen das PET-CT oft nicht bezahlen. Ein Affront gegenüber Ärzten und Patienten?
 

Faszinierende Körperbilder - bisher ohne Studien
 
Die Rolle des Bösewichts will man im IQWiG nicht übernehmen, stellt Institutsleiter Prof. Jürgen Windeler klar: "Ich selbst finde die Bilder unheimlich faszinierend. Die Frage ist, ob diese faszinierenden Bilder eine Bedeutung für die Behandlung - oder allgemeiner: die Versorgung - des Patienten haben. Und das ist es, was das IQWiG interessiert und was es bewertet." Es sei in vielen Fällen nicht bewiesen, dass die teuren Bilddiagnosen wirklich zu besseren Behandlungen führen. Studien dazu fehlten. Eventuell, so der IQWiG-Chef, hätten die tollen Körperbilder die Anwender so beeindruckt, dass sie es vernachlässigten, den Nutzen für die Therapie systematisch zu belegen.

Die Forderung, das nachzuholen, war ein Schock für die Anwender, so Prof. Windeler: "Das erleben wir auch bei Stellungnahmen, die das IQWiG zu seinen Berichten bekommt, dass uns gesagt wird, was das für eine absurde Forderung sei. Natürlich: Die bunten Bilder, das genaue Hingucken sind schon ein Vorteil, sind ein offensichtlicher Vorteil. Hingegen würde das IQWiG sagen: Das ist noch kein Vorteil. Der Vorteil ist erst zu zeigen."

Ein Dilemma: Da gibt es faszinierende Fortschritte der Diagnosetechnik, aber keine soliden Daten, ob der High-Tech-Zauber den Patienten wirklich nutzt. Manchmal schaffen die Bilder aus den Superscannern sogar Probleme: Fehlerhafte oder missgedeutete Signale, Zufallsfunde mit unklarer Bedeutung, das könne auch zu falschen Therapien führen.


Wie kontrolliert man den Nutzen der Apparatemedizin?
 
Die Ärzte wehren sich gegen den Vorwurf blinder Technikfaszination: Das IQWiG zeichnet die Studienlage zu negativ. Dort fürchte man eine Kostenexplosion durch zu viele Maschinen und Abrechungsmöglichkeiten. Nicht die Kontrolleure sollten über den Sinn von Körperscans entscheiden, meint Prof. Frederik Wenz, Direktor der Klinik für Strahlentherapie an der Uniklinik Mannheim: "Ich glaube, dass wir hier das IQWiG gar nicht benötigen würden. Ich glaube, dass der verantwortungsbewusste, gut ausgebildete, motivierte Arzt viel wichtiger ist, als der gute, bezahlte Kontrolleur."

In der Mannheimer Uniklinik holt man die Kosten für unbezahlte Scans über die anschließende Behandlung wieder herein: Patienten, die das angeschlossene Therapiezentrum nutzen, bekommen das PET-CT von der Klinik bezahlt. Durch die Verzahnung von Diagnose und Therapie sei der Sinn der Bilder für die Behandlung auch nachvollziehbar, so Prof. Wenz: "Ich denke, wenn so ein PET-CT eingebunden ist, in die gesamte onkologische Versorgung, in Tumorboards, in ein Tumorzentrum, dann ist relativ sicher gestellt, dass kein Schindluder damit getrieben wird. Wenn ich ein PET-CT auf die grüne Wiese stelle und losgelöst von den Konzepten der Therapeuten betreibe, dann könnte dieser Vorwurf durchaus gerechtfertigt sein."
 

Ist das Neueste auch immer das Beste?
 
Im IQWiG sagt man: Egal mit welchem Geschäftsmodell die Kliniken arbeiten, bitte erst die Studien auf den Tisch, dann die Scans nach klaren Regeln. Das Problem ist aber, dass sowohl Ärzte wie Patienten vom High-Tech-Tripp nicht mehr runterkommen: Nur das Aufwändigste verspricht Segen und Heilung. Dabei sollten sich Patienten nicht einfach dankbar in Röhre schieben lassen, sondern Fragen stellen, sagt Prof. Windeler vom IQWiG: "Was, Doktor, machst Du eigentlich anders, wenn Du das Ergebnis hast? Warum glaubst Du, dass Du was besser machen kannst, wenn Du das Ergebnis hast?

Das sind Fragen, die jeder Patient auch im Kopf haben könnte, und die er auch seinem Arzt, der ihm anbietet mal ein PET oder ein MRT zu machen, auch stellen kann." Ein frommer Wunsch, angesichts der faszinierenden Möglichkeiten? Die Vorstellung, dass die neueste Medizintechnik immer das Bestmögliche ist, ist tief in unseren Köpfen verankert. Gerade deshalb ist es notwendig geworden, genau hinzuschauen, ob das Machbare auch immer sinnvoll ist.


Neue Qualität der medizinischen Versorgung
 
Marktwirtschaft mit mehr Wettbewerb: Das soll unser Gesundheitswesen besser und billiger machen. Deshalb wird es derzeit umgebaut. Dabei wird die Trennung zwischen ambulanter und stationärer medizinischer Versorgung aufgehoben.
 
Lange gab es eine recht strikte Trennung: Auf der einen Seite die stationäre medizinische Versorgung in den Kliniken, auf der anderen Seite die ambulante Versorgung. Diese wird von den zahlreichen niedergelassenen Ärzten geleistet. Das Geld für diese beiden Systeme kommt von uns Beitragszahlern. Es landet bei den Krankenkassen - und wird von dort weiterverteilt.

Über 60 Milliarden Euro fließen jährlich aus den Gesetzlichen Krankenkassen in die Krankenhäuser. Noch mal über 27 Milliarden Euro fließen an die niedergelassenen Ärzte - allerdings nicht direkt. Von den Kassen geht das Geld erst an die Kassenärztliche Vereinigung, kurz KV, die dafür die ambulante Versorgung sicherstellt. Von dort wird es an die Ärzte verteilt. Dieses zweigeteilte System verbrauchte viel Geld.

Doch es war nicht nur teuer, es gab auch einen anderen gravierenden Nachteil: Die Versorgung der Patienten litt darunter. Sie wurden zwischen den beiden Versorgungssystemen umständlich hin und hergeschoben, ohne dass auf beiden Seiten der Mauer wirklich Hand in Hand zusammengearbeitet wurde. Um das System zu verbessern, wurde die Mauer deshalb eingerissen: Es gibt keine strikte Trennung mehr zwischen ambulanter und stationärer medizinischer Versorgung, stattdessen eine bessere, schnelle Verbindung zwischen den beiden Systemen.


Neue Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbietern

Hinzu kommt mehr Wettbewerb und eine neue Geldverteilung. Damit soll das "Monopol" der Kassenärztlichen Vereinigungen, zerschlagen werden. Die Ärzte können sich jetzt untereinander zusammenschließen, zu Verbünden und Ärztenetzen. Die konkurrieren miteinander, schließen Versorgungsverträge mit den Kassen ab und übernehmen die Geldverteilung. Die neue Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbietern soll die Versorgung besser und billiger machen.

Die Ärzte können sich aber nicht nur zu solchen recht losen Netzwerken zusammenschließen. Sie können auch ein Medizinisches Versorgungszentrum bilden, kurz MVZ. Dabei legen verschiedene Fachärzte ihre Praxen zusammen und bilden eine Art Poliklinik, wie früher in der DDR. Die MVZ können Verträge mit den Kassen schließen und bekommen von dort ihr Geld. Der Patient hat dann aber nicht mehr "seinen Arzt", sondern nur noch sein Medizinisches Versorgungszentrum, wo sich verschiedene Ärzte um ihn kümmern.
 

Bestmögliche Versorgung nicht mehr gewährleistet 
 
Nicht nur Ärzte, auch Krankenhäuser können MVZ gründen. Dafür müssen sie sich ein paar niedergelassene Ärzte an Land ziehen. Diese Ärzte können dann als Angestellte für die Klinik arbeiten. Vorteil für die Klinik: Neben dem Geld aus dem stationären Topf bekommt sie zusätzliches Geld aus dem ambulanten Topf. Ihr größter Vorteil aber: Die angestellten Ärzte im MVZ können Patienten in die Klinik überweisen. Die Klinik hat dann ihre eigenen Einweiser und kann den Patientenfluss steuern und damit in gewissen Grenzen auch den Geldfluss. Deshalb sind solche Modelle besonders für profitorientierte Unternehmen interessant.

Das können große Klinikketten sein, aber auch andere Großkonzerne, die sich auf Umwegen in diesen Markt einkaufen. Doch das Ganze hat eine gravierende Nebenwirkung: Nicht der Patient, sondern die Gewinnerwartung steht im Mittelpunkt.Die bestmögliche Versorgung ist deshalb nicht mehr gewährleistet. Trotzdem: Die Umwandlung unseres Gesundheitswesens in einen Gesundheitsmarkt ist nicht mehr aufzuhalten.

Krank aus der Klinik
 
Patienten kommen nach Operationen immer früher aus dem Krankenhaus. Manche werden bereits nach Hause entlassen, obwohl die Wunden noch nicht verheilt sind oder sie sich nicht alleine versorgen können. Von "Blutiger Entlassung" sprechen Kritiker. Je früher die Kliniken die Patienten entlassen, desto mehr Kosten können sie sparen. Bleibt die Gesundheit der Patienten dabei auf der Strecke?
 
Patrick G. hatte einen Nabelbruch, der sich nach der Behandlung entzündete. Fünf Tage nach der Operation wurde er mit einer großen offenen Wunde am Bauch aus der Klinik nach Hause entlassen. Er sollte viel liegen und die Wunde täglich von niedergelassenen Ärzten versorgen lassen. Der 39jährige lief von Arzt zu Arzt, bis er jemanden fand, der in der Lage und bereit war, die weitere Versorgung zu übernehmen. Patrick G. fühlt sich im Stich gelassen.

Die Hausärzte hingegen beklagen, dass sie durch die frühzeitigen Entlassungen jetzt Behandlungen übernehmen müssen, die früher in den Bereich der Krankenhausärzte fielen. Hilflose, alleinstehende Patienten müssen sie zu Hause besuchen, um Wunden zu versorgen und Spritzen zu geben. Mehr Geld erhalten sie für die zusätzlichen Leistungen jedoch nicht.
 

Patienten fallen in Versorgungslücke

Die Krankhäuser hingegen sparen, wenn sie früh entlassen. Denn seit Einführung der sogenannten Fallpauschalen in den Kliniken 2003 zahlen die Krankenkassen für jeden Patienten je nach Ausgangsdiagnose eine feste Summe, egal wie lange der Patient in der Klinik bleibt. Frühe Entlassungen sind deshalb gut für die Bilanz der Klinik. Dadurch stehen die Ärzte unter Druck: Sie sollen ihre Patienten möglichst schnell nach der Operation nach Hause oder in eine Rehabilitations-Klinik schicken.

Dabei gibt es jedoch besonders unerwünschte Patienten, wie zum Beispiel den Unfallpatienten Christian K., die in eine Versorgungslücke fallen. Mit ihm macht die Klinik ein Minusgeschäft, weil er zu lange braucht, um nach vier Operationen fit zu werden. Seine Pauschale reicht nicht.
 
Chirurgen und auch Rehabilitations-Ärzte befürchten, dass die Qualität der Behandlung durch das Fallpauschalen-System in manchen Fällen auf der Strecke bleibt. Wenn Patienten in die Rehabilitations- Einrichtungen kommen, dann geht es etwa 40% von ihnen in der ersten Woche noch zu schlecht, um mit der Therapie beginnen zu können.

Den Einrichtungen fehlt das Personal für eine intensive medizinische Betreuung. Auch Gerd F. war nach seiner Knie-Operation anfangs nicht in der Lage, an der Krankengymnastik der Reha-Einrichtung teilzunehmen und saß nur im Rollstuhl. Der 68jährige fühlt sich aus dem Krankenhaus abgeschoben.
 

Tipps und Hilfe für Patienten
 
Um Menschen, die nach einem Krankenhausaufenthalt nicht alleine zurechtkommen, zu helfen, gründete die Bremerin Elsbeth Rütten den Verein "Ambulante Versorgungsbrücken". Sie gibt Patienten und Angehörigen Tipps, vermittelt Pflegedienste, berät bei der Finanzierung und verfasste einen Leitfaden für praktische Hilfe vor und nach der Operation. Ein Fernsehteam um die Autorin Antje Büll hat in Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen und bei Hausärzten recherchiert, welche Auswirkungen das Fallpauschalen-System für die Patienten hat.

Ihre Dokumentation zeigt die Schwachstellen des Gesundheitssystems durch die Fallpauschalen. Wenn Patienten pauschalisiert werden und der wirtschaftliche Anreiz für eine Behandlung größer ist als der qualitative, ist am Ende der Kranke der Leidtragende. 


Das Patientenhotel
 
Immer mehr Menschen leben allein, gleichzeitig entlassen die Kliniken ihre Patienten immer früher. Vor diesem Hintergrund hat Christian Theysohn vom Deutschen Roten Kreuz Vorderpfalz das Patientenhotel realisiert. Zusammen mit der Hotelleiterin Christine Fuhrmann hat er nun ein halbes Jahr Erfahrung mit Patienten und Krankenkassen gesammelt.
Langsam wacht sie wieder auf: Vollnarkose und Operation gut überstanden. Jetzt darf Inge W. noch eine Zeit lang im Patientenbett dämmern. Dann könnte der Narkosearzt der Ludwigshafener Ambulanzklinik sie schon nach Hause entlassen. Aber nur, wenn dort jemand 24 Stunden lang auf sie aufpasst.

Das ist aber ein Problem für Inge W.: "Ich bin ganz alleine, mein Mann ist im Februar verstorben. Und da wäre ich mir allein überlassen, wenn wirklich was wäre, heute Nacht." Eigentlich müsste die 65-Jährige dann noch eine Nacht lang ein teures Krankenhaus-Bett belegen.

Doch der Arzt hat ein Angebot für sie: Einen Ort, der sichere Überwachung bietet, aber weit weg ist, vom freudlosen Klinikambiente. Dr. Jens Schröter von der Narconet Ambulanzklinik bietet ihr eine Übernachtung im "Patientenhotel" an: "Ich habe mir das angeschaut, das ist wirklich sehr schön geworden. Das hat wirklich Hotelcharakter, man kann das gar nicht so richtig als Krankenhaus bezeichnen."
 

Krankenschwester in Tarnung

Inge W. willigt ein. Die Kasse zahlt die Übernachtung dort, versichert der Arzt. Und das Shuttle steht schon bereit. Fünf Fahrtminuten später taucht es auf, das "Patientenhotel am Ebertpark". Die Empfangsdame im Hoteldress ist eine getarnte Krankenschwester. Auch sonst könnte der Bau als ordentliches City-Hotel durchgehen: Keine Krankenhausatmosphäre. Für Frau W. und ihren frisch operierten Zeh gibt es natürlich ein geräumiges Einzelzimmer. Nach OP und Transfer ist sie nun aber geschafft und fühlt sich einsam: "Ich setz’ mich vor die Glotze, oder ich leg mich."
 

Persönlicher als in einem Hotel
 
Sie könnte auch Bar oder Restaurant im Hotel besuchen. Dort sitzen vor allem Reha-Patienten, die für mehrere Wochen hier sind und täglich zu den medizinischen Einrichtungen fahren. Das Personal kommt meist aus der Hotelbranche. Die Anforderungen hier sind auf der menschlichen Ebene etwas höher, meint Anja Klauck, die am Empfang arbeitet: "Hier lernt man die Gäste, die Patienten, richtig kennen. Die sind ja vier bis sechs Wochen im Haus bei uns. Also man bekommt die ganzen Geschichten mit: Warum sie hier im Haus sind, was sie durchgemacht haben. Sie kämpfen um Arbeitsplätze, das Finanzielle im Hintergrund - das bekommt man ja im normalen Gastgewerbe gar nicht mit."
 

Direkter Anschluss zum Krankenhaus 
 
Der diskrete Arbeitsraum der Krankenschwester ist quasi die Hinterbühne des Hotels. Andrea Haase verteilt Medikamente, misst Blutdruck, wechselt Verbände. Sie fackelt auch nicht lange, den Rettungsdienst in der nahen Klinik zu rufen. Das Hotel mit 55 Zimmern wirbt mit der hohen Sicherheit für seine Gäste. Da darf nichts schief gehen: Der Verdacht, ein Patient hätte besser noch in der Klinik bleiben sollen, darf keinesfalls aufkommen.

Doris S., Gast des Hotels, hat da gute Erfahrungen gemacht: "Ich bin mal nachts zufällig auf die Nottaste draufgekommen. Ruck zuck, Anruf: Frau S., ist was? Ne, ich hab’ nix! Also, es hat sich sofort jemand gemeldet, und das ist auch ein Vorteil." Doris S. wohnt nach ihrer Hüftoperation schon drei Monate hier. Auch sie wäre zu Hause allein. Hier fühlt sie sich geborgen und versorgt. Ihren freiwilligen Aufenthalt muss sie wohl selbst bezahlen, Kosten: ab 75 Euro pro Nacht. Sie hofft noch, dass ihre Krankenkasse etwas beisteuert, aber das ist unwahrscheinlich.

Die Hotelbetreiber betonen, dass ein Klinikbett mindestens dreimal so teuer ist, wie die Übernachtung in dem umgebauten früheren Pflegeheim. Doch immer noch muss der Arzt nach einer ambulanten OP bei der Kasse im Einzelfall begründen, warum sein Patient weder zu Hause noch in der Klinik übernachten soll.


Patientenhotel ist noch nicht selbstverständlich
 
Das Patientenhotel ist noch eine Grauzone im medizinischen Leistungskatalog. Die Kassen verhalten sich abwartend. So ein schmucker Ort weckt auch Begehrlichkeiten, das weiß auch der Hotelinitiator Christian Theysohn: "Die Kassen haben sich einfach noch nicht mit dem Thema dahingehend auseinandergesetzt, dass sie ermittelt haben, wie groß könnte denn die Kostenschwemme sein, die Antragsschwemme, die da auf sie zu rollt. Und wir müssen da Überzeugungsarbeit leisten und mit den Geschäftsführern der Krankenkassen das Thema mal beleuchten, Ärzte mit am Tisch haben - und dann werden sich die Krankenkassen auch ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen müssen."
 

Lücke zwischen Krankenbett und Zuhause
 
Die meisten Patienten, so Theysohn, würden nach einer ambulanten OP ohnehin lieber nach Hause zurück. Die Kassen sollten nun bitte ihre Anforderungen ans Hotel präzisieren: Patientensicherheit, Leistungen, Kostenrahmen - klare Regelungen müssen her, wann der Aufenthalt verordnet werden kann. Übernachtungsgast Inge W. hat bis zum Abend kaum etwas vom Hotel gesehen, aber genug Atmosphäre geschnuppert, um sich ein Urteil zu bilden: "Ich habe das Gefühl, das ist ein großer Unterschied. Ich will nicht sagen, dass man in der Klinik nicht auch gut behandelt wird.

Das hier ist anders, das ist persönlicher." Das Patientenhotel schließt eine Versorgungslücke. Das muss so gestaltet werden, dass nicht neue Kosten für das bereits überlastete Gesundheitssystem entstehen. Jedenfalls ist es ein Versuch, Patienten, die zu Hause niemanden haben, ein gesundheitsförderndes Umfeld zu bieten - weniger Krankenlager, mehr Kurzurlaub. 
Krankenhaussterben
 
Die Krankenhauslandschaft ist im Umbruch: Kleinere oder ineffiziente Häuser werden geschlossen, Deutschland droht ein Kliniksterben. Gerade in strukturschwächeren Regionen sind Städte und lokale Ärzteschaften gefordert. Welche Alternativen gibt es, um die Versorgungssicherheit der Patienten weiterhin zu gewährleisten? Einblicke in die aktuelle Situation zweier Städte, die ihr Krankenhaus verloren haben.
 

Klinik-Aus in Schramberg
 
Andrea Kieninger stellt ihre kleine Tochter Caroline vor, die am 30.9.2011 in Schramberg geboren wurde - dem letzten Tag an dem das Kreiskrankenhaus geöffnet war. Carolines Strampelanzug mit dem Logo des Schramberger Krankenhauses ist ein Geschenk für Neugeborene. Damit ist es jetzt aus und vorbei, denn nach dem Kauf schloss der Klinik-Konzern Helios das Krankenhaus. Für den Investor war der Standort in der Schwarzwälder Kreisstadt mit 20.000 Einwohnern nicht zu retten: schlechte Auslastung, Defizite, bauliche Mängel. Dafür wurde die Klinik im 25 Kilometer entfernten Rottweil ausgebaut.

In Schramberg bleibt Verunsicherung, so Passanten: "Kürzlich hatte ich mal nachts so einen Anfall, da dachte ich: Um Gottes Willen, wie komme ich jetzt hier weg." "Meine Mutter hat was gehabt, da musste sie halt nach Oberndorf. Mein Vater kann eigentlich nicht mehr Autofahren, aber wie kommen sie mit dem Bus dorthin?" "Wenn‘s mal pressiert, da bin ich also weg vom Fenster. Wenn ich einen Herzinfarkt kriege, das dauert zu lang, wenn ich da nach Rottweil muss."
 

Ärzte unter Druck
 
Den Verlust spüren auch niedergelassene Ärzte wie Dr. Jürgen Winter, der seit 18 Jahren in Schramberg praktiziert. Die Arbeit nimmt nun überhand. Es gibt mehr Patienten, längere Wartezeiten, aufwändige Überweisungen in andere Städte. Die Situation könnte sich zuspitzen, so der Allgemeinarzt: "Wir haben einfach die Erfahrung gemacht, dass die Ärzte, die sich in den letzten 15 Jahren in Schramberg niedergelassen haben, meist vorher im Schramberger Krankenhaus waren. Also der Pool, den wir dadurch bisher hatten, fällt jetzt weg. Es wird also für uns entscheidend sein, ob wir dann künftig attraktive Arbeitsplätze für junge Kollegen anbieten können."

Fast die Hälfte der Hausärzte hier geht aufs Rentenalter zu, mit 50 zählt Dr. Jürgen Winter zu den jüngeren. Immerhin hat die Situation zu einer Solidarisierung geführt, so der Arzt: "Wir haben uns zusammengesetzt, unterschiedliche Gruppierungen: Ärzte, Stadt, Bürgerinitiative, mit dem Ziel, etwas Neues zu schaffen, was dann mittelfristig eine gewisse Versorgung sichert."

Teamwork als Alternative

Die Idee, die Klinik als Ärztehaus zu nutzen, wurde verworfen. Das Gebäude ist zu groß und unrentabel. Doch ein Baugrundstück nahe der Ortsmitte macht Hoffnung. Ein modernes Ärztehaus soll hier entstehen. Eine Gruppe engagierter Ärzte hat Pläne in Auftrag gegeben, um ein neues Heim für die medizinische Versorgung der Stadt zu schaffen. Das Teamwork privater und öffentlicher Investoren soll eine effiziente Polyklinik hervorbringen, so der Chirurg Dr. Bernhard Schönemann: "Polyklinik ist für uns eine medizinische Einrichtung, in der Fachärzte und Hausärzte zusammenarbeiten, um auf Klinikstandard ärztliche Leistungen für Patienten anbieten zu können.

Wir wollen die Zusammenarbeit ganz eng machen, wo die Fachärzte in den gleichen Räumen sitzen, die gleichen Apparate nutzen und das gleiche Personal." Das Teamwork würde auch Teilzeitarbeit erlauben, zum Beispiel für Ärztinnen mit Kindern. So etwas macht einen Standort attraktiv. So sehr auch der Verlust noch schmerzt, der Wegfall des Kolosses auf dem Hügel hat neue Energien freigesetzt, sowohl bei Ärzten, als auch bei Bürgern und Politikern.

Für den ebenfalls in Schramberg geborenen Oberbürgermeister Thomas Herzog wäre die Polyklinik ein Schritt, um den Wegfall des Krankenhauses auch emotional zu überwinden: "Wir müssen nach vorne schauen. Also ich denke, dass wir die stationäre Versorgung, dieses Niveau nicht wiederhaben werden, aber wir werden im ambulanten Bereich so gut aufgestellt sein, dass wir die nächsten Jahre beruhigt schlafen können."
 

Klinik Hechingen: Neue Nutzer gesucht
 
In der sechzig Kilometer entfernten Stadt Hechingen wurde das Krankenhaus, als GmbH von Kreis und Uniklinik Tübingen geführt, ebenfalls geschlossen. Wieder ging es um Zentralisierung, gestärkt wurde die Klinik in Balingen. Adelbert Schmidberger, der Kämmerer der Kreisverwaltung konnte als Mieter nur verschiedene Einzelnutzer finden: Verwaltung, Sozialwerk, medizinnahe Dienstleister und einen Arzt.

Doch immer noch gibt es zu viel Leerstand und kein medizinisches Konzept für die große Immobilie, so Adelbert Schmidberger: "Das ist sicher ein stückweit ein Dinosaurier, den wir hier am Hals haben. Wir sind weiterhin auf der Suche und wir wollen auch überregional nochmal die Werbetrommel rühren." Im Innern des "Dinosauriers": Wartehallen für die Patienten, die zum einzigen Arzt wollen, einem Orthopäden, der im Haupttrakt seine Praxis eröffnete.

Dr. Wilfried Gfrörer kam von der Uniklinik und engagierte sich für ein Ärztekollektiv auf dem Hügel. Er hadert aber mit der Verwaltung: Nähere Parkplätze seien erst möglich, wenn mehr Mieter da sind. Was das zur Folge hat, erläutert Dr. Wilfried Gfrörer: "Ich habe überdurchschnittlich viele junge Patienten, und weniger ältere. Also das Patientenkollektiv ist im Vergleich zu Kollegen deutlich jünger geworden. Es kommen einfach Leute, die akut verletzt sind, die nicht diese chronischen Beschwerden haben, weil für die ist es einfach ein beschwerlicher Weg bis hier hoch."

Ärztenetzwerk Zollernalb

Und wer versorgt die älteren oder chronisch kranken Patienten? Der Ärzteverbund in den Räumen der alten Klinik wird unwahrscheinlich, aber, so Dr. Wilfried Gförer: "Als klar wurde, dass das Krankenhaus Hechingen geschlossen wird, haben wir uns als niedergelassene Ärzte zusammengeschlossen, im Ärztenetzwerk Zollernalb. Und wenn wir miteinander telefonieren, kann der Patient direkt von meiner Praxis, oder der Kollegenpraxis zu mir kommen, oder eben andersrum." Und das ohne aufwändige Terminabsprachen und Wartezeit. Auch hier bietet der Exitus des "Dinosauriers" Chancen, sich neu zu orientieren und Alternativen zu schaffen. Am Ende dieser Flucht nach vorn könnte eine überraschende Erkenntnis stehen: Auch ohne den Klinik-Koloss muss die Zukunft nicht ganz finster aussehen.
 
Der diskrete Arbeitsraum der Krankenschwester ist quasi die Hinterbühne des Hotels. Andrea Haase verteilt Medikamente, misst Blutdruck, wechselt Verbände. Sie fackelt auch nicht lange, den Rettungsdienst in der nahen Klinik zu rufen. Das Hotel mit 55 Zimmern wirbt mit der hohen Sicherheit für seine Gäste. Da darf nichts schief gehen: Der Verdacht, ein Patient hätte besser noch in der Klinik bleiben sollen, darf keinesfalls aufkommen. Doris S., Gast des Hotels, hat da gute Erfahrungen gemacht: "Ich bin mal nachts zufällig auf die Nottaste draufgekommen. Ruck zuck, Anruf: Frau S., ist was? Ne, ich hab’ nix! Also, es hat sich sofort jemand gemeldet, und das ist auch ein Vorteil."


Gentest – und dann?

Das Geschäft mit Gentests boomt, sogar im Internet. "Ihre Lebensqualität steht in den Genen" - mit solchen Parolen werben Web-Anbieter dafür, das Genom analysieren zu lassen, um Krankheitsrisiken - vermeintlich rechtzeitig - erkennen und behandeln zu können. Ein Geschäft mit der Angst, denn das Online-Genorakel suggeriert: Ob Alzheimer, Diabetes oder Krebs, für all das gibt es eine Lösung - und sie beginnt mit dem Gentest.

Dass die Realität oft ganz anders aussieht, erfährt man in Kliniken, die seriöse Gentests im Rahmen wissenschaftlich fundierter Patientenbetreuung anbieten. Dort gibt es keinen Test ohne vorherige ausführliche Beratung und klare medizinische Indikation. Denn einerseits bergen die Tests zwar die Chance, Krankheiten noch vor ihrem Ausbruch zu entdecken und zu behandeln, andererseits gibt es für viele dieser Erkrankungen aber noch gar keine befriedigende Therapie. Viele Humangenetiker mahnen daher zur Vorsicht im Umgang mit Gentests - denn das Wissen kann auch eine Last sein.
 

Wer ist ein "Risikopatient"?
 
Nadja G. und Jürgen R. gehören zu den Menschen, denen Mediziner einen Gentest empfehlen. Sie sind gesund - zumindest zurzeit - und doch gelten sie bei Ärzten als so genannte "Risikopatienten". In ihren Familien häufen sich Krankheitsfälle. Doch wird es deshalb auch sie treffen? Wie hoch ist ihr Risiko tatsächlich - und was hilft es ihnen, es zu kennen? Oder ist das Wissen darum vielmehr ein Fluch? Kompetente Ärzte empfehlen den Gentest nur bei klar begründetem Verdacht auf eine erbliche Erkrankung.

Wenn sich – wie bei Nadja G. - in der Verwandtschaft ein bestimmtes Muster von Krankheitsfällen zeigt. "Meine Mutter ist leider sehr früh schon an Brustkrebs verstorben, da war ich 15-16 Jahre alt", erzählt Nadja G. Seitdem hat sie sich viel damit beschäftigt, und diese schwere Zeit einigermaßen verarbeitet, doch damals litt sie sehr darunter: "Meine Cousine ist dann etwas später verstorben. Da war ich gerade in der Pubertät und man bekommt halt schon große Angst, auch selbst an Krebs erkranken zu können. Da in der Familie sehr viele Krebserkrankungen da waren, war für mich dann auch schnell klar, dass früh eine Gentestung für mich in Frage kommt."

Was sie heute gefasst erzählen kann, quälten sie und ihre Schwester damals sehr: die ständige Angst. Gemeinsam entscheiden sich die beiden für den Test. Ärzte des Brustzentrums Köln nehmen ihnen Blut ab, analysieren ihr Erbgut. 50 Prozent beträgt ihr Risiko, die lebensgefährliche Mutation geerbt zu haben. Nadja erfährt, dass auch sie das gefährliche Gen trägt, ihre Schwester nicht. Auch wenn die Gefahr für sie selbst nicht gebannt ist, ist sie darüber teilweise erleichtert: "Als wir das Ergebnis bekommen haben, war ich in erster Linie schon froh, dass meine Schwester das Gen nicht hat", erzählt sie. "Für mich selber war es so, dass ich es fast vermutet oder befürchtet hatte, dass ich das Gen in mir trage und dann sind für mich schon ganz viele Dinge einfach losgebrochen, wie geht’s jetzt weiter, was sind die nächsten Wege, aber eben auch eine prophylaktische Operation der Brüste war für mich früh Thema, weil ich einfach wahnsinnige Angst vor dieser Krebserkrankung an sich hatte."

Schwieriger Umgang mit dem Testergebnis
  
Das Erschreckende am Testergebnis: Ihr Erkrankungsrisiko liegt um die 80 Prozent und ist auch für Eierstockkrebs erhöht. BRCA 1 heißt die Genmutation, die Nadja nun vor die bisher schwierigste Entscheidung ihres Lebens stellt. Lässt sie Brust und Eierstöcke operieren, kann sie dem Risiko entgehen. Doch was bedeutet das für sie, ihre Partnerschaft, ihre Zukunft? Schließlich möchte die junge Frau mit ihrem Mann noch eine Familie gründen. Er steht hinter ihr, unterstützt sie. Trotzdem bereitet die Entscheidung den beiden Kopfzerbrechen.

 Auch für Jürgen R. ist das Testergebnis vor zwei Jahren zunächst ein Schock. Der 45-jährige Schlosser ist ein sportlicher Typ und fühlt sich kerngesund. Er glaubt nicht, von Darmkrebs betroffen zu sein, obwohl sein Vater und seine Großmutter an der Krankheit starben. Alarmiert ist er allerdings, als auch sein Bruder erkrankt. Er lässt sich testen. In seinem Familienstammbaum finden die Ärzte weitere Krebsfälle. Bestätigt sich der Verdacht, beträgt sein Erkrankungsrisiko 80 Prozent. Der Test bringt ihm schonungslose Klarheit: "Im ersten Moment war überhaupt keine Reaktion, das muss man erstmal sacken lassen", beschreibt er seine damaligen Gefühle.

 "Das Überraschende war, dass ich tatsächlich diesen Gendefekt habe, ich war ja felsenfest davon überzeugt, dass ich es nicht habe, weil mein Vater und mein Bruder schon wesentlich jünger erkrankt sind und ich für diese Familiengeschichte schon relativ alt bin. Und die 50 Prozent, dass ich es haben könnte, ist in meinem Denken ja doch eher unwahrscheinlich gewesen." Mit der bösen Überraschung will er rational umgehen, möglichst wenig Angst aufkommen lassen, denn die hilft ihm beim Umgang mit dem Testergebnis nicht wirklich weiter. HNPCC heißt die Genmutation, die er geerbt hat. Bei dieser Variante von Darmkrebs operieren die Ärzte erst, wenn sie im Darm Vorstufen von Krebs entdecken.


 Prophylaktische OP nicht immer die richtige Lösung
 
Anders als Nadja G. hat Jürgen R. also nicht die Wahl, sich vorsorglich operieren zu lassen. Nur regelmäßige Früherkennungstermine können ihn vor dem Krebs schützen. Trotzdem ist er erleichtert, dass er nicht über eine OP nachdenken muss: "Wenn man sich den Darm ganz entfernen lassen müsste, was bei mir ja unverhältnismäßig wäre, dann hat man ganz gewaltige Einschränkungen. Ich bin froh, dass ich also nicht vor der Entscheidung stehe, ob ich mich operieren lasse oder nicht." Nadja dagegen hat sich nach dem Gentest für die prophylaktische Operation entschieden.

Die Ärzte empfehlen ihr die Entfernung der Brustdrüsen und einen Wiederaufbau der Brust. Durch den Eingriff sinkt ihr Brustkrebsrisiko unter ein Prozent, deshalb ist das Thema Brustkrebs nach der Operation für sie Vergangenheit. Eine radikale Maßnahme - aber für sie die Erlösung von ständiger Angst: "Ich hab immer dieses Gefühl gehabt, dass so ein Damoklesschwert über mir hängt, das mich früher oder später trifft. Von daher hab ich mir dann überlegt, wie ich mich selbst schützen kann und mir selbst die Angst nehmen kann. Ich hab mich für eine Operationsmethode entschieden, die die Brust mit Eigengewebe wieder aufbaut.

Und ich bin total glücklich und zufrieden, wie’s geworden ist." Arztbesuche sind für sie seitdem kein Grund mehr zu zittern. Ihr Mann und ihre Familie haben ihr von Anfang an auf ihrem Weg beigestanden. Vor allem das half ihr, mit dem Testergebnis umzugehen und die für sie richtige Entscheidung zu treffen.
 

Die Last der Ungewissheit
 
Für Jürgen R. dagegen geht die Ungewissheit weiter – engmaschige Früherkennung - Ultraschall, Darm- und Magenspiegelungen. Jede dieser Untersuchungen könnte den Ausbruch der Krankheit ans Licht bringen. Genträger wie er müssen damit rechnen, mehrmals im Leben operiert zu werden. Doch die gewissenhafte Krebsvorsorge kann ihm ebenso gut ein langes Leben schenken. Heute kann ihm niemand sagen, wie lange er gesund bleibt. Die Last dieser Ungewissheit versucht er zu verdrängen: "Ängste ruft es nicht hervor, aber ich bin natürlich jederzeit wieder erleichtert, wenn ich höre, dass ich keinen Krebs habe.

Ich genieße das Leben jetzt noch mehr, ich nehme mir mehr Zeit für meine Hobbys, für meinen Sport, ich gönne mir mehr. Am meisten macht es mir eigentlich zu schaffen, dass meine Kinder diesen Gendefekt haben könnten, aber ich würde trotzdem jederzeit wieder den Test machen lassen." Denn auch wenn der Test ihm keine Erleichterung brachte, so bietet er ihm trotzdem eine Chance – möglichst viel für sich zu tun und damit weiterhin gesund zu leben.
 

Zusatzinfos (Fachausdrücke, Erklärungen):
 
Gentest: Auch DNA-Analyse, DNA-Test oder Genanalyse genannt. Der Begriff bezeichnet molekularbiologische Verfahren, bei denen Erbmaterial, die DNA (deutsche Abkürzung DNS) verwendet wird, um beispielsweise Rückschlüsse auf erbliche Erkrankungsrisiken eines Menschen ziehen zu können. Solche Tests werden durchgeführt, um genetische Grundlagen einer bereits bestehenden Krankheit aufzuklären oder um Veranlagungen für bestimmte Krankheiten im Vorfeld ihres Ausbruchs zu entdecken.

Der Berufsverband deutscher Humangenetiker e. V. (BVDH) führt eine Liste genetisch bedingter Erkrankungen, die im deutschsprachigen Raum in entsprechenden Einrichtungen gegenwärtig mittels DNA-Analyse untersucht werden können. Seriöse Humangenetiker empfehlen Gentests nur bei ganz klar definierten Risiko-Konstellationen und spezifischen Häufungen von Erkrankungen im familiären Umfeld. Ein Gentest ist nicht für jedermann sinnvoll und für viele Ratsuchende nicht etwa die Lösung am Ende eines Leidenswegs, sondern oft erst der Anfang einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit einer potentiellen Erkrankung.

Oft wirft der Test mehr Fragen auf, als er beantwortet. Umso wichtiger ist für Test-Anwärter eine kompetente ärztliche Betreuung und Beratung.

BRCA1/BRCA2: (= BReast CAncer 1 und 2) sind menschliche Gene, die zur Klasse der Tumorsuppressorgene (= der tumorunterdrückenden Gene) gehören. In manchen Publikationen werden BRCA 1 und 2 auch als Brustkrebsgene bezeichnet. Die Mutation der Gene erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Tumorbildung, insbesondere für Brustkrebs (Mammakarzinom), Eierstockkrebs (Ovarialkarzinom), Dickdarmkrebs (Kolonkarzinom) und Prostatakarzinom.

In Deutschland erkrankt etwa jede 10. Frau und etwa jeder 1.000. Mann im Laufe des Lebens an einem Mammakarzinom. Brustkrebs gehört damit bei Frauen zu den häufigsten Krebserkrankungen. Während die Mehrzahl der Brustkrebsfälle ohne erkennbaren erblichen Hintergrund auftritt, lassen sich fünf bis zehn Prozent aller Mammakarzinome auf eine genetisch bedingte Veranlagung zurückführen. Schätzungsweise zwei Drittel der erblichen Fälle können durch Mutationen in einem der beiden Brustkrebsgene BRCA1 und BRCA2 erklärt werden.

HNPCC: ist die häufigste erbliche Darmkrebsform. Das H steht für hereditär und bedeutet, dass es sich um eine vererbbare Krankheit handelt. NP steht für "nicht Polyposis" und soll dazu dienen, die Erkrankung von einer anderen Form des erblichen Darmkrebs zu unterscheiden - und zwar von der FAP - der Familiären adenomatösen Polyposis.

Bei der FAP entwickeln die Betroffenen hunderte bis tausende kleiner Polypen im Darm, also gutartige Gewebevermehrungen der Darmschleimhaut. Grundsätzlich kann jeder Polyp zu einem bösartigen Tumor heranwachsen. Im Unterschied zu FAP-Patienten haben HNPCC-Patienten in der Regel aber nur einzelne Polypen. CC steht für kolorektales Karzinom, also eine Krebserkrankung des Dick- und Enddarms.


Die Versprechen der personalisierten Medizin

Seit einiger Zeit macht ein neues Schlagwort im Gesundheitswesen die Runde: "personalisierte Medizin". Aber ist das tatsächlich etwas Besonderes? An der Uniklinik Greifswald wurde ein ambitioniertes Studienprojekt gestartet. 6.000 Bluthochdruck-Patienten sollen untersucht werden.
Haben Ärzte nicht schon immer versucht, ihre Patienten persönlich zu behandeln? Nur bedingt!

Bluthochdruck als Krankheitssymptom zum Beispiel, kann viele verschiedene Ursachen haben. Starre Blutgefäße oder ein Engpass in der Niere. Bei der Wahl der Medikamente beziehen sich die Ärzte aber häufig gar nicht auf diese Ursachen, weil sie in der Regel unbekannt sind. Die Ärzte gehen nach dem Prinzip "Versuch und Irrtum" vor, so lange, bis das passendste Medikament gefunden ist. Mit der personalisierten Medizin soll sich das ändern.
 

Volkskrankheit Bluthochdruck
 
Ruth H. hat seit dreißig Jahren Bluthochdruck. Die Folgen sind ein schwaches Herz, Wasser in der Lunge, geschädigte Nieren. Seit fünf Jahren ist sie an der Dialyse. Der Grund für den Hochdruck? Bisher unbekannt. Tapfer spricht die 65-jährige über ihre Krankheit: "Es wird vermutet, dass es vom Herz kommt, es wird vermutet, dass es von den Nieren kommt, aber warum, weiß keiner wirklich. Ich werde ja auch medikamentös behandelt wegen des Blutdrucks. Aber er bleibt trotzdem nicht gleich, sondern er schwankt immer wieder. Und das macht es einfach schwierig. Und da hoffe ich, dass ich durch die Studie noch etwas mehr Aufschluss bekomme."

Das erhoffen sich auch der Sozialmediziner Prof. Wolfgang Lieb und der Kardiologe Dr. Marcus Dörr. Sie gehören zu den Wissenschaftlern, die die ambitionierte Studie mit dem Namen Gani-Med durchführen. Um die dringend benötigten Fortschritte bei der Behandlung der Volkskrankheit Bluthochdruck zu erreichen. Der Kardiologe Dörr sagt zum Ziel der Studie: "Bei den meisten Patienten ist es so, dass man die wirkliche Ursache des Bluthochdrucks gar nicht kennt. Man behandelt aber trotzdem alle Patienten mit ähnlichen Methoden, mit gleichen Medikamenten.

Nun ist es so, dass verschiedene Patienten unterschiedlich auf die Medikamente reagieren: Da ist die Spannbreite von gutem Ansprechen über gar keine Reaktion – oder sogar schwere Nebenwirkungen. Diese Unterschiede näher zu beleuchten und aufzuklären, das ist die Aufgabe der personalisierten Medizin."

Gezielte Heilung durch personalisierte Medizin?
 
Es ist fast grotesk, denn eine sehr grundlegende Tatsache wird bei der pharmazeutischen Therapie bisher oft nur unzureichend gewürdigt: Die Menschen unterscheiden sich voneinander. Nicht nur äußerlich, im Gesicht, in Größe und Gewicht, auch in Alter und Geschlecht, in ihrem Lebensstil, den Ernährungsgewohnheiten und im Stoffwechsel. Und Menschen unterscheiden sich in ihren Genen, also in in der Veranlagung für Fehlfunktionen und Krankheiten. Das alles beeinflusst die Wirkung von Medikamenten.

Die personalisierte Medizin versucht, dem Rechnung zu tragen, erklärt Prof. Lieb: "Patienten, die ein klinisch einheitliches Krankheitsbild haben, wie den Bluthochdruck oder die Herzinsuffizienz, können in Wahrheit ganz unterschiedliche Krankheitsmechanismen haben und Krankheitsursachen. Und durch unsere umfangreichen Untersuchungen möchten wir versuchen, diese Subgruppen herauszuarbeiten. Damit wir die Patienten zielgenauer behandeln können."
 

Einteilung der Patienten in Gruppen

Die Studie "Gani-Med" soll 6.000 Probanden mit Bluthochdruck erfassen. Er ist die Ursache zahlreicher Volkskrankheiten, die jährlich Milliarden Euro verschlingen, wie Schlaganfall, Nierenschwäche und Herzinfarkt. Die 6.000 Probanden werden medizinisch engmaschig überwacht. Dabei werden bis zu 7.000 Messwerte pro Person erhoben. Eine Rasterfahndung mit dem Ziel Patienten mit gleichen Profilen aufzuspüren und in verschiedenen Gruppen zusammen zu fassen. Das Blut der Probanden gehört zu den wichtigsten Informationsquellen bei dieser medizinischen Großfahndung. Die aufbereiteten Blutproben landen in einem Massenspektrometer. Ein High-Tech-Apparat, der das komplexe Gemisch von Eiweißmolekülen im Blut auseinanderdividiert und nach Gewicht sortiert. Denn das Spektrum der Blutproteine enthält wertvolle Informationen über den Gesundheitszustand der Probanden.
 

Ziel der Studie: Individuelle Behandlungsmethoden
 
Diese sogenannte "Proteomanalyse" - davon sind die Greifswalder Forscher überzeugt - wird eine überschaubare Zahl typischer Grundmuster bei den Blutproteinen liefern: Eiweißmuster, die charakteristisch sind für die verschiedenen Untergruppen der Bluthochdruckerkrankung. Man wird damit nicht nur die Patienten in Untergruppen aufteilen können. Der Kardiologe Marcus Dörr geht davon aus, dass die Eiweißmuster auch medizinisch auswertbare Informationen bereitstellen: "Man geht davon aus, dass diese verschiedenen Subgruppen von Proteommustern auch darauf hindeuten, dass die Patienten auch unterschiedliche Krankheitsmechanismen für die Erkrankung haben.

Wir erhoffen uns, dass man aus diesen speziellere Informationen über die Erkrankungen erhält, so dass wir sie auch spezifischer behandeln können." Auch Thomas Krogul macht bei "Gani-Med" als Proband mit. Allerdings ist er soweit völlig gesund. Er gehört zur gesunden Kontrollgruppe, deren Eiweißspektrum in Blut und Urin zum Vergleich ebenfalls gecheckt wird.

Hat er keine Angst, dass bei ihm dadurch zufällig eine böse Krankheit entdeckt wird? "Angst würde ich das nicht nennen. Es ist eigentlich ganz interessant. Es kann ja auch gut sein, wenn der Arzt später sagt, 'hören sie mal zu, da liegt was bei ihnen im Argen' oder 'da müsste man mal was machen'. Weil man dann ja auch mit dem Arzt zusammen tätig werden kann. Und wenn es unentdeckt bleibt, dann kann es ja auch zum Nachteil sein."
 

Ein Kühlroboter speichert Millionen von Daten
 
Die Bluthochdruckstudie "Gani-Med" wird Millionen von Daten speichern und analysieren. Um die Bioproben zu verwalten und zu konservieren, verfügt Gani-Med über den derzeit modernsten Kühlschrankroboter. Er fasst 500.000 Bioproben, die bei minus 80 Grad aufbewahrt werden. Damit die Proben bei Bedarf zu jeder Zeit wieder gefunden und mit weiteren Tests überprüft werden können, speichert der Kühlroboter den Barcode von jedem Probenbehälter. Wenn ein Teilnehmer irgendwann erkrankt, können die Forscher in seinen Proben nach frühen Vorzeichen dafür suchen.

"Und wenn uns das gelingt, dann wird es uns wahrscheinlich auch möglich sein, Krankheitsprozesse zu einem früheren Zeitpunkt zu detektieren und zielgenauer zu behandeln", erklärt Sozialmediziner Wolfgang Lieb. Wenn sich die personalisierte Medizin wie geplant entwickelt, dann werden wir in Zukunft kopfschüttelnd auf die heutige Medizin zurückblicken, und denken: Wie konnte man nur so viele Medikamente verschreiben und gleichzeitig so wenig verstehen, wie und warum und wogegen sie eigentlich wirken.
 


Personalisierte Krankheiten - ein neues Geschäftsmodell?

"Personalisierte Medizin" wird derzeit in der Krebstherapie stark propagiert. Die Therapie soll damit endlich erfolgreicher werden. Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Leiter der Krebsmedizin im Berliner Helios-Klinikum und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, ist da sehr skeptisch.
Prof. Ludwig arbeitet seit dreißig Jahren in der Krebsmedizin und behandelt Tumorpatienten. Immer wieder gab es vollmundige Ankündigungen für echte Fortschritte in der Behandlung von Tumoren.

Doch auch wenn das wissenschaftliche Verständnis der Tumoren in dieser Zeit beträchtlich vorangekommen ist, so ist es nach Ansicht von Experten nicht gelungen, diese Erkenntnisse in wirklich bessere medikamentöse Therapien umzusetzen. Doch jetzt kündigen Pharmakonzerne eine neue Strategie an.
 

Gewinnchancen für Pharmakonzerne
 
Das neue Schlagwort lautet: personalisierte Medizin gegen den Krebs. Alle großen Hersteller werben damit. Der Pharmariese Roche spricht dabei in seinem Internetvideo zum Thema auch ganz offen übers Geld: "Das Gesundheitswesen verändert sich ständig. Patienten, Ärzte und Kostenträger verlangen sichere, effektivere Behandlungen. Investoren suchen robuste und nachhaltige Geschäftsmodelle."

Man darf sich nichts vormachen: Für die börsennotierten Pharmakonzerne ist Gewinnmaximierung das oberste Ziel. Jede Chance, den Kurswert des Unternehmens zu steigern, wird genutzt. Personalisierte Medizin bietet da gute Chancen. So heißt es in dem Internetvideo von Krebsmittelhersteller Roche denn auch: "Diese Entwicklung hat uns in eine konkrete Richtung geführt - zur personalisierten Medizin. Sie ist Kernelement der Geschäftsstrategie von Roche."
 

Personalisierte Medizin als Geschäftsstrategie?

Der Berliner Onkologe Wolf Dieter Ludwig erklärt, was es damit auf sich hat: "Die pharmazeutischen Hersteller orientieren sich gerade neu. Das heißt, die Hersteller verlassen das Gebiet der Blockbuster - also Arzneimittel gegen Volkskrankheiten - deren Patente bereits abgelaufen sind oder in Kürze ablaufen, und sie orientieren sich hin in Richtung der sogenannten Orphan Drugs - der Arzneimittel für seltene Krankheiten. Dort haben sie erhebliche Vergünstigungen im Rahmen der Zulassung und sind mit Ihren Patenten länger am Markt vertreten." Das gilt hier auch für die personalisierte Medizin. Teure Zulassungsprozeduren für eine neue Chemotherapie lassen sich dabei umgehen.

Und zwar so: Normalerweise muss ein neues Krebsmedikament gegen die Standardtherapie antreten. Mit einer großen Zahl von Probanden in aufwändigen Studien. Die neue Therapie muss mindestens ebenso gut wirken wie die Standardtherapie - möglichst besser. Diesen Nutzen nachzuweisen ist teuer.
 

Aufwändige Tests entfallen
 
Mit der personalisierten Medizin können sich die Hersteller diesen Aufwand sparen und damit viel Geld, weil der Krebs in viele verschiedene seltene Krebskrankheiten zerlegt wird. Medikamente für diese "seltenen Krankheiten" müssen laut Gesetzgeber nicht so streng geprüft werden. Wolf-Dieter Ludwig sagt, diese Regelung für die Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten sei zunächst eine sehr sinnvolle Regelung, weil bessere Medikamente bei wirklich seltenen Krankheiten dringend benötigt würden. "Allerdings ist diese Regelung von den pharmazeutischen Herstellern gerade für die Entwicklung von Krebsmedikamenten missbraucht worden, so dass sie ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllt."

Außerdem soll die personalisierte Medizin das Image der Chemotherapie aufpolieren. Die Zellgifte haben schwere Nebenwirkungen und bringen bei vielen Krebsarten im Schnitt nur Wochen oder wenige Monate mehr Lebenszeit. Bisher gleicht die Therapie zudem oft einem Glücksspiel. Es gibt Mittel, die wirken nur bei einem Zehntel der Kranken. Die weitaus meisten Patienten spüren nur die Nachteile. Die Hersteller versprechen die Erfolgsrate zu verbessern.

Noch vor der Behandlung soll der Krebs genauer charakterisiert, eben personalisiert und dann mit dem geeigneten Mittel bekämpft werden. Tatsächlich können Proben aus einer Biopsie des Tumorgewebes per Gentest analysiert werden, sagt auch Prof. Ludwig. Findet sich im Tumor ein bestimmtes Gen, ein sogenannter Biomarker, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Tumor auf eine bestimmte Chemotherapie reagiert. Soweit die Theorie.


Teure Therapien halten nicht, was sie versprechen

Doch die Praxis zeigt: Selbst wenn die Vorhersage stimmt, hat das für den Patienten nicht automatisch einen Nutzen. Beispiel "Erbitux": Die personalisierte Diagnostik zeigt, dass es bei Darmkrebs wirkt. Das Krebswachstum wird für wenige Wochen gebremst. Die Therapie kostet fast 12.000 Euro. Das Leben der Patienten verlängert sie allerdings nicht. Das ist auch kein Wunder. Krebs ist kein einheitliches Gewebe, sondern eine wilde Kolonie verschiedener Krebsuntergruppen mit verschiedenen Biomarkern.

Die Versprechen der Pharmabranche also nur heiße Luft? Prof. Ludwig jedenfalls ist mehr als skeptisch: "Es wird uns möglicherweise gelingen, anhand der Biomarker einzelne Untergruppen zu identifizieren, damit werden wir aber nicht die Tumorerkrankung endgültig besiegen. So dass letztlich das Versprechen, dass eine biomarkerbasierte Medizin einen großen Fortschritt bringt, derzeit nicht realisiert wurde." Personalisierte Medizin - eine PR-Strategie. Trotzdem geht das Geschäftsmodell "personalisierte Medizin" offenbar auf. Die Hersteller dürfen Medikamente teuer verkaufen, deren Nutzen oft kaum nachweisbar ist.

 (... 1/5 aller Patienten sind älter als 60 Jahre und erhalten 4/5 aller auf dem Pharmazeutischen Markt vorhandenen und angebotenen Medikamente ... fragt sich nur noch wie hoch der Gewinn der Pharmakonzerne ist und wie hoch der gesundheitliche Schaden ...)

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