Ruffato: Ich bin eine Ausnahme, kein Beispiel und kein Symbol für das neue Brasilien. Meine Mutter war Analphabetin, mein Vater ein halber Alphabet, aber beide wussten: Die einzige Möglichkeit für ein würdiges Überleben ist Erziehung. Das heißt, meine ungebildeten Eltern haben mehr verstanden als jeder brasilianische Politiker ...
- (Notiz: ... das hat schon seine handfesten Gründe, dass Politiker nicht in Erziehung und Bildung investieren => was der Bürger nicht weiß, macht ihn auch nicht heiß ...)
Ich hätte eigentlich als Dreher arbeiten sollen, aber ich habe weitergemacht, Journalismus studiert, später kam ich zur Literatur. Das ist aber kein üblicher Werdegang. Von meinen Kindheitsfreuden sind die allermeisten entweder gestorben, weil sie im Drogengeschäft waren - oder sie haben in Fabriken geschuftet, waren unglücklich und wurden Alkoholiker.
- (Notiz: ... egal wo: der Alkohol ist die wirtschafts-politisch wichtigste Droge, um die Verlierer dieser Systeme ruhig und kalt zu stellen und gleichzeitig Steuergelder zu kassieren ... von daher ist jede andere Droge nur eine zu bekämpfende Konkurrenz ... Alkohol war und ist auch nach der Schusswaffe und den eingeschleppten Viren das Tötungsmittel der Wahl gegen Ureinwohner" von Eurasien, Australien, Nord- bis Südamerika ...)
Für meine Freunde von damals bin ich ein Außerirdischer. Und noch etwas: Ich bin mir sicher, wenn ich nicht weiß wäre, sondern schwarz, würde ich jetzt nicht hier sitzen.
Spiegel: In welcher Welt fühlen Sie sich zu Hause, in der Welt Ihrer Kindheit oder der Intellektuellen von Sao Paulo ?
Ruffato: Ich fühle mich gar nicht zugehörig, wie übrigens die meisten Brasilianer. Ich bin in der Stadt Cataguases geboren und lebe in Sao Paulo. Und wo gehöre ich hin ? Nirgends.
[...]
SPIEGEL:
Sie haben einmal gesagt, Sie würden jeden Morgen mit der Angst vor dem Absturz aufwachen. Woran liegt das ?
Ruffato:
Menschen wie ich, aus der Mittel- und Unterschicht, leben in
ständiger Unsicherheit. Anfang der Neunzigerjahre lag die Inflation hier
bei 90 Prozent im Monat. Das Gefühl ist daher: Heute geht es uns gut,
aber was morgen ist, weiß keiner.
SPIEGEL:
Im vergangenen Jahr haben Sie auf der Frankfurter Buchmesse eine
schonungslose Rede gehalten, in der Sie die dunklen Seiten Brasiliens
benannten: Brutalität, Homophobie, vor allem aber Rassismus. Ist das
friedliche Zusammenleben von Farbigen und Weißen ein Mythos?
Ruffato:
Dieser Eindruck, dass es in Brasilien eine friedliche Vermischung
der Rassen gebe, ist trügerisch. Die Sklaverei wurde hier erst 1888
abgeschafft, und wenn man sich die Abstammung der heutigen Brasilianer
anschaut, sieht man, dass ihre männlichen Vorfahren in der Regel
europäischer Herkunft sind, ihre weiblichen Vorfahren aber indigene und
afrikanische Wurzeln haben.
Das heißt doch:
- Die europäischen Männer
haben diese Frauen vergewaltigt.
- (Notiz: der Nachweis ist relativ einfach => das mitochondriale Erbgut wird immer von der Mutter weitergegeben, so wurden und werden Erbkrankheiten, die auf mitochondriale Mutationen beruhen, immer mütterlichseits weitergegeben ...)
Wie soll daraus ein friedliches
Miteinander erwachsen ?
Der Fußballer Ronaldo hat auf die Frage, ob
Brasilien rassistisch sei, einmal geantwortet:
- Ja, es gibt Rassismus,
und als ich noch schwarz war, habe ich darunter gelitten.
Er meinte:
- Heute sei er nicht mehr schwarz, weil er Geld hat.
Das ist das, was wir
soziale "
Weißwaschung" nennen.
- Das heißt aber nicht, dass die weiße
Elite diese Schwarzen auch akzeptiert.
SPIEGEL:
Von Pelé heißt es, er sei ein Schwarzer mit weißer Seele.
Ruffato:
Genau, das ist doch der schlimmste Rassismus, den es gibt !
SPIEGEL:
Die Arbeiterpartei wurde gewählt, weil sie versprochen hatte, diese
elitären Strukturen abzuschaffen. Warum ist Brasilien noch immer so
ungleich ?
Ruffato:
Unser politisches System ist ein Erbe der Militärdiktatur. Um
Entscheidungen durchzusetzen, muss man so viele Allianzen schließen,
dass es nahezu unmöglich ist, das System zu verändern. Die
Arbeiterpartei hat es am Anfang versucht, aber inzwischen übernimmt sie
die politische Praxis, die sie früher bekämpft hat, einschließlich der
Korruption.
SPIEGEL:
Gilt das auch für Präsidentin Dilma Rousseff, die ja angekündigt hatte, gegen die Korruption vorzugehen?
Ruffato:
Wir Brasilianer sind alle korrupt.Ich selbst bin es, jeder hier ist
es.
- Die soziale Struktur führt dazu, und es macht keinen Unterschied,
ob es um einen Real geht oder um 100 Millionen.
- Wir betrügen bei der
Steuererklärung oder wenn wir einen Strafzettel bekommen.
Korruption ist
akzeptiert, viele Menschen glauben sogar, es sei gar keine Korruption,
wenn man den Staat beklaut. Weil uns der Staat ja auch beklaut.
Gibt es
in der Regierung von Dilma Rousseff Korruption?
- Sicher gibt es die, wie
es sie auch unter Präsident Lula gab oder während der Militärdiktatur.
Unser gesamtes politisches System ist faul. Und das
Schlimmste ist:
- Wir
Bürger leisten keinen Beitrag, um das zu ändern.
- (Notiz: ... ist ein natürliches Phänomen: erst wenn eine "kritische Masse" erreicht ist, setzt sie sich in Bewegung ...)
SPIEGEL:
Sie haben Brasilien einmal als ein Land bezeichnet, in dem man
"seinem Nächsten den Rücken zukehrt". Woher kommt diese
Rücksichtslosigkeit?
Ruffato:
Wir haben kein
Gemeinschaftsgefühl, wir sind sehr individualistisch
und egoistisch.
- Die Hauptursache dafür ist meiner Meinung nach unsere
ausbeuterische Elite.
- Sie hat den Staat zu ihrem Privateigentum gemacht.
Zum Beispiel unsere öffentlichen Universitäten: Sie sind gut, aber wer
besucht sie ?
- Nur die Reichen, die eine gute Schulbildung haben und die
Aufnahme schaffen.
- Und wenn einem Brasilianer der Aufstieg gelingt, dann
übernimmt er die konservativen Werte der Mittelklasse.
Bei uns gilt:
- Wer einen Hubschrauber hat,
- überholt denjenigen mit dem teuren Auto,
- das
teure Auto überholt das schlechte Auto,
- das schlechte Auto den
Motorradfahrer,
- dieser den Radfahrer und der Radfahrer den Fußgänger.
Man schaut nicht zurück, sondern immer nur nach oben.
SPIEGEL:
Das ist das Gegenteil der Wahrnehmung, die viele von Ihrem Volk haben.
Ruffato:
Ich glaube, Brasilien wird oft falsch verstanden. Wir waren immer
gewalttätig.
- Es hat mit dem Völkermord an den Ureinwohnern begonnen,
- es
folgten die Sklaverei, später die Ausbeutung der armen Einwanderer.
Und
praktisch das gesamte 20. Jahrhundert lebten wir unter einer Diktatur.
Die Geschichte Brasiliens ist eine Geschichte der Gewalt. Mich
überrascht daher auch die Gewalt heute nicht.
- Wir sind so nett, dass wir
in der Lage sind, eine Frau auf der Straße zu lynchen, weil wir sie
verdächtigen, ein Kind entführt zu haben.
- Wir sind so offenherzig, dass
wir voriges Jahr 368 Homosexuelle ermordet haben.
- Wir sind so friedlich,
dass es Schätzungen zufolge im Jahr etwa 500 000 Fälle von häuslicher
Gewalt gibt, aber das wird gar nicht bekannt, weil die Frauen sich nicht
trauen, zur Polizei zu gehen.
Ich weiß also nicht, warum wir so ein
herzliches Volk sein sollen. Was wir haben, ist eine Neigung zur
Fröhlichkeit. Trotz unseres Elends versuchen wir, fröhlich zu sein.
SPIEGEL:
Warum hat in letzter Zeit die Gewalt sogar noch zugenommen, obwohl
die Armut gesunken ist und viele Favelas angeblich befriedet wurden?
Ruffato:
Die Situation hat sich radikal verschlimmert, und meiner Ansicht
nach gibt es dafür verschiedene Gründe.
- Die sozioökonomischen
Unterschiede werden größer, das ist ein Grund.
- Und weil der Drogenhandel
nicht richtig bekämpft wird, ist Brasilien inzwischen zu einem der
wichtigsten Märkte geworden.
Auch ein weiterer Aspekt ist interessant:
- In Brasilien sind die Armen, die für die Reichen arbeiten, unsichtbar.
Wenn ein
Armer zum
Verbrecher wird, sieht er den anderen nicht als
Menschen, weil er selbst nicht gesehen wird.
- Für ihn ist es egal, ob er
100 Real klaut oder jemanden umbringt.
- (Notiz: ... es gilt auch das Umkehrprinzip von übergeordneten Konzern- und Monopolstrukturen, dass je höher die Margen, Dividenden und Profitspannen sind, die Opferzahlen immer weniger ins Gewicht fallen ...)
Ich glaube, das liegt auch daran,
dass der
Staat im
Alltag abwesend ist.
SPIEGEL:
Es gab sehr viele negative Reaktionen auf Ihre Rede in Frankfurt.
Ihre Gegner drohten: Wenn Sie Ihr Land nicht liebten, sollten Sie besser
auswandern. Warum ist Kritik an den Verhältnissen in Brasilien so ein
Tabu?
Ruffato:
Ich glaube, das liegt an unserem geringen
Selbstwertgefühl.
- Es ist
nicht schön zuzugeben, dass wir ein gewaltbereites Volk sind, dass wir
Rassisten sind, Homophobe und Machos.
Viel einfacher ist es, so zu tun,
als gäbe es das alles nicht. Denn dann muss man nichts ändern.
- Deshalb
reden wir uns ein, dass wir die tollsten Strände, die schönsten Frauen
und den besten Fußball der Welt haben.
- Warum müssen wir um bessere
Lebensbedingungen kämpfen, wenn wir all das haben?
- Warum müssen wir
etwas gegen die Schwulenfeindlichkeit tun, wenn wir die größte
Gay-Parade der Welt feiern?
Wir sind zu allem Überfluss auch noch
scheinheilig.
SPIEGEL:
Ein Erbe der Diktatur?
Ruffato:
Ja, ganz sicher, die meisten Brasilianer sind in autoritären
Systemen aufgewachsen.
- Wir wurden mit Fußtritten erzogen.
Wir blicken
einander
selten auf Augenhöhe an,
sondern von unten nach oben
ein Blick
von Menschen,
die Angst haben.
SPIEGEL:
In diesem Jahr jährt sich der Militärputsch zum 50. Mal, die
Diktatur hat hier länger überlebt als in fast allen anderen Ländern
Lateinamerikas. Dennoch wurde die Vergangenheit kaum aufgearbeitet.
Warum ist das so schwierig?
Ruffato:
Wir Brasilianer meiden gern die
Konfrontation. Wenn wir Dinge lösen
können, indem wir sie verstecken, dann tun wir das.
Die Geschichte, die
in der Schule gelehrt wird, ist eine
konfliktscheue Geschichte:
- eine
Erzählung von der Rassendemokratie, von einem fröhlichen Volk.
Doch wir
haben die Diktatur gar nicht richtig hinter uns gelassen,
- wir haben noch
immer eine verdeckte Diktatur der politischen und wirtschaftlichen
Elite.
SPIEGEL:
Seit einem Jahr gibt es immer wieder Proteste unzufriedener Bürger
gegen die Regierung. Ist das der Beginn einer größeren Bewegung, die das
politische System zu Reformen zwingen wird?
Ruffato:
Ich mag keine
Zukunftsprognosen erstellen, auch
Volkswirte und
Meteorologen liegen ja immer daneben. Sicher ist, dass die Proteste eine
generelle Unzufriedenheit zeigen, allerdings sind die Menschen aus
unterschiedlichen Gründen auf die Straße gegangen. Die einen forderten
einen stärkeren Staat, andere ein besseres
Bildungssystem.
- Manche sind
unzufrieden, weil sie jeden Tag drei Stunden zur Arbeit fahren,
- manche,
weil sie abends nicht das Haus verlassen können, weil es zu unsicher
ist.
- Und wieder andere, weil ihre Kinder in Schulen gehen, in denen sie
nichts lernen.
Also,
Unzufriedenheit gibt es genug. Was fehlt, sind
gemeinsame Ziele.
SPIEGEL:
Warum sind die Brasilianer selbst in ihrer Unzufriedenheit so gespalten?
Ruffato:
Weil hier in Brasilien das, was allen gehört, keinem gehört. Wir
kümmern uns erst, wenn die Probleme uns selbst betreffen.
- Wenn der
Nachbar überfallen wurde, geht mich das nichts an.
- Wenn ich ein
gepanzertes Auto habe, kümmern mich Überfälle nicht.
- Wenn die Kinder auf
der Straße hungern, ist das nicht mein Problem, solange meine Kinder zu
essen haben.
Wir haben
keinen Gemeinsinn.
- (Notiz: ... mit einem solchen Deutschen habe ich mich mal auf einer Autofahrt vom Seemannsheim in Emden nach Bremen unterhalten, der sich vor etlichen Jahren in Brasilien niedergelassen hat ... es war erschreckend, wie arrogant ein Mensch sich gegenüber der heimischen Bevölkerung benehmen und verhalten kann, dem nicht bewusst ist (trotz höherer Schulbildung) auf wessen Kosten er nur erfolgreich werden konnte ...)
SPIEGEL:
Kann der Fußball der fehlende Kitt dieser gespaltenen Gesellschaft sein?
Ruffato:
Einerseits stimmt es, dass Fußball Arm und Reich vereint.
- Aber er
ist auch ein Herrschaftsinstrument, das eingesetzt wird, um soziale
Unterschiede zu überdecken.
Als Brasilien
1970 zum dritten Mal
Weltmeister wurde, waren die
Repressionen am
schlimmsten.
- Gegner der
Militärdiktatur wurden gefoltert und ermordet.
SPIEGEL:
Wird der Fußball auch heute noch politisch genutzt?
Ruffato:
Keine Frage, da hat sich nichts geändert.
- Am Anfang hieß es, dass
die WM der Bevölkerung und den Austragungsorten zugutekommt, weil in
neue Infrastruktur investiert wird.
Jetzt sehen wir:
- Es war vor allem
eine Gelegenheit für Korruption.
- Es werden Stadien gebaut, die keiner
braucht, und Steuergelder verschwendet.
Das ist unsere traurige
Realität.
SPIEGEL:
Sie sind großer Fußballfan, werden Sie sich Spiele im Stadion ansehen?
Ruffato:
Nein, denn die
Eintrittspreise sind sehr hoch, das kann ich mir
nicht leisten. Deshalb sehen Sie in den Stadien auch nicht die
brasilianische Bevölkerung.
Man konnte das gut beim Endspiel des
Confed-Cups beobachten:
- Das ganze Stadion war voll mit weißen
Zuschauern, die unserer Nationalelf zuschauten, die vor allem aus
Schwarzen besteht.
Das ist die
Metapher für Brasilien:
- Die
Dunkelhäutigen schwitzen, damit die Elite ihren Spaß hat.
SPIEGEL:
Herr Ruffato, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Ruffato,
53, ist einer der bekanntesten Autoren Brasiliens. Sein Leben klingt
wie ein Roman: die Großeltern arme italienische Einwanderer, die Mutter
Analphabetin, der Vater Popcornverkäufer. In seinen Büchern gibt
Ruffato der städtischen Unterschicht eine Stimme, berühmt wurde er mit
seinem auch ins Deutsche übersetzten Roman "Es waren viele Pferde", der
in 69 Szenen einen Tag in São Paulo erzählt, so atemlos, brutal und
manchmal auch poetisch, wie das Leben dort ist. Ruffato besitzt kein
Auto, kein Handy, keinen Fernseher und lebt mit seinen zwei Katzen in
einer bescheidenen Wohnung im Westen São Paulos, in der auch das
Gespräch stattfand.
Das Gespräch führten die Redakteure Jens Glüsing und Juliane von Mittelstaedt.
* * *
(tobeco)