Dienstag, 2. Februar 2010

... heute klingelt der Vorarbeiter höchstpersönlich und schickt nicht seine "Untergebenen" vorbei ;-) ... ich stecke die Nase aus dem geöffneten Fenster Badezimmerfenster und sehe den großgewachsenen arbeitslosen "Schweißer" in seiner weißen wärmenden Schweißermütze:

"Wann komm'ste vorbei ?"
  • "...hmm... duschen, frühstücken ... in einer Stunde ... !"
"Okay, dann sehen wir uns im Bauwagen !"

... das war leider von mir gelogen, denn heute ist ein Mix aus Schnee und Schneeregen angesagt, ein scheußliches Wetter: do not go out, you better stay at home for your own safety ... ein Blick auf den Seemannsfriedhof + Landschaft lässt mich fragen, ob es überhaupt Sinn für diese Männer macht, durch kniehohen Schnee zu watscheln ... nach drei Stunden sehe ich aus dem Küchenfenster in Richtung Grundschule: der Bauwagen ist geschlossen ... so, so, dann sind also sehr wahrscheinlich zur Stadt gefahren und haben sicherlich zu ein paar "Schreibtischtätern" gesagt: "He Du, nimm mal Schaufel, Säge und Schneidwerkzeug und versuche, in einem tief verschneiten Waldgebiet Äste, Laub und Gestrüpp zu beseitigen !"

***

... gestern nach 22h noch zu einem anderen weiteren arbeitslosen "Schiffsschweißer" gegangen, es handelt sich um einen sehr interessanten Zeitgenossen:
  • 30 Jahre alt
  • verheiratet mit einer Ex-GoGo-Dancerin
  • zwei Kinder + ein Kind in Mutters Bauch
  • hat zu Hause zwei Hunde, zwei Katzen und Leguane in einem Terrarium 
  • hat sich ein Zimmer genommen, um ein Rückzugsgebiet zu haben: die "Alte" macht nämlich in letzter Zeit viel Stress !
... das ist natürlich das zentrale Thema: warum sucht ein relativ junger Familienvater eine separate kleine Wohneinheit, wenn doch die verantwortlichen Aufgaben in Heim und Familie liegen und warten ? Als Außenstehender, Zugezogener und relativ neutrale Person (hatte nie Stress mit einer Freundin, da letztere nie vorhanden ;-) sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen, zumal auch für eine halbwegs vernünftige Argumentation die Betrachtungsweise der Frau fehlt.

Kann ich mir trotzdem, nur für diesen einen Abend, ein vorläufiges, vages Urteil erlauben, ohne auch nur einmal die Frau und die Kinder gesehen zu haben, ohne deren Wohn- und Lebensverhältnisse, ohne ihre Vergangenheit und Zukunftspläne zu kennen ?!

Ich glaube, es ist möglich, aber nur aufgrund viel Erfahrung, Fingerspitzengefühl in der Kommunikation und den richtigen Fragestellungen im richtigen Moment ! Die Interpretation von Mimik, Gestik und Stimmfall ist Grundvoraussetzung, ohne sie ist eine vernünftige Analyse unmöglich ! Der Blick in die Augen, und das was man darin liest ist, ist schließlich das gesuchte Ergebnis von dem, was man von der Person denkt, fühlt, weiß und meint, erwarten und hoffen zu können !

Und für eine vollständige und faire Beurteilung ist dann auch die Betrachtungsweise der Frau unabdingbar, alles andere wäre null und nichtig !

Zu meinem "Schiffsschweißer", der mit 15-16 Jahren auf der Werft war:
  • hat schon immer mit Motoren, Motorradroller und anderen Vehikeln gebastelt
  • Vater hat eine Gerüstfirma, er selber hat als Jugendlicher bei ihm ausgeholfen, wohl immer mit der klaren Aussage: "Wenn ich dir helfen soll, dann bitte beim Aufbau der Gerüste, aber nicht beim Abbau"

  • => interessanterweise gehört er zu den Handwerkern, die schwindelfrei sind, aber sobald sie nach unten blicken, bekommen sie eine Form von Höhenangst ... das passiert mir nicht, aber ich kann es gut nachvollziehen, wann immer ein Windstoß mich in luftigen Höhen überrascht: dann werde ich für einen kurzen Moment aus einem Gewohnheitstrott gerissen und reiße mich einfach wieder zusammen ! 
    • eine weitere Bitte an seinen Vater war: "Schick mich lieber so oft wie möglich zur Werft zu den Schiffen !" ... auf der Werft hat er auch seine Ausbildung zum "Schiffsschweißer" gemacht ...
    ... aus seinen Ausführungen entnehme ich:
    • er ist mit Herz und Seele dabei: "Schweißen, Anstreichen und andere mechanische Tätigkeiten"
    • das Arbeiten im Sommer in dicker Arbeitskluft nimmt er nicht klaglos in Kauf, aber seine Leistungen nehmen dadurch auch nicht sonderlich ab
    • kann von sehr vielen Projekten berichten, für die er gearbeitet hat (erinnert mich an Gregor in Elmpt: "... wir waren früher die Besten in meiner Gegend, habe selber über 40 Projekte hochgezogen ..." !)
    • er wirkt sehr realistisch in der Einschätzung seiner eigenen handwerklichen Fähigkeiten ... allein schon die detailreiche, aber in Ruhe vorgetragene Beschreibung und Schilderung der einzelnen Arbeitsschritte, zeigt, dass er kein Träumer und Spinner ist, sondern ein bodenständiger Handwerker !
    ... bevor er seine jetzige Frau kennengelernt und Kinder bekommen hat, hatte auch er seine Träume ... gibt aber zu, dass er sich jetzt in einer Phase befindet, in der er persönlich diese Freiheiten nur verwirklichen kann, wenn er nicht liiert ist:
    • hat früher sich mit einem Kumpel zusammengetan, dessen Schwerpunkt Sanitätsdienst und Schwertransport war ... er, der Schweißer, hatte Scheine für Security, Schweißen, Licht- und Tontechnik und einige mehr ...
    • sie haben sich bei der Stadt angemeldet und den Leuten gesagt: "Du willst eine Party machen ? Kein Problem ... ich besorge dir alles: Absperrungen, Toilette, Würstchenbude, Sicherheitskräfte am Eingang, Licht, Musik, Sanitätsdienst, Erste Hilfe usw... du brauchst dich um nichts zu kümmern ... du musst nur z.B. für ein Dorffest zehn Mann von der Feuerwehr abstellen, die beim zügigen Aufbau helfen können !"

    • Abrechnungen wurden separat geführt
    • (mittlerweile, nachdem sein Kumpel auch noch die Scheine für Security gemacht hat, hat dieser die Firma übernommen: es herrscht aber kein Streit zwischen den beiden, der Schweißer gönnt seinem Kumpel den Erfolg !)
    ... so hatte man sich vor etlichen Jahren zusammengetan und wurde zu einer lokalen Größe ... er war sogar kurz davor, eine Stufe höher zu klettern, hat aber auch seine Fehler gemacht => es hat sich irgendwann mal eine Entwicklung eingestellt, die man oft bei erfolgreichen Selbständigen beobachten kann: ... du denkst, du bist was und hast es geschafft ... das Geld sitzt lockerer als je zuvor ... man vergisst allzuleicht mit wieviel Schweiß, Mühen und Nerven in der Vergangenheit etwas erarbeitet wurde und wird unachtsamer ... und man vergisst allzu schnell die Bedeutung des Spruches: "Es ist nicht schwer, eine Eins in der Schule zu bekommen, aber dieses Niveau zu halten, ist das eigentlich Schwierige !" ... und so hat er in seinem provinziellen Größenwahn zu stark sich selber auf die eigene Schulter geklopft:

    "Da bin ich mit dem Schiff nach Bremen gekommen und habe mir einen Propeller bis nach Hamburg gemietet !"
    • "Propeller ?"
    "Ja, eine Motorflugzeug ! Das klapperte an allen Ecken und Enden !"
    • "Warum denn das, um schneller ans Ziel zu gelangen - waren die Autobahnen verstopft ?"
    "Nee, weil ich eins an der Waffel hatte und mir einfach was gönnen wollte!"

    Und genau in dieser Phase fängt sehr wahrscheinlich der finanzielle Abstieg an. Wenn ich die geschilderten Zeiräume zurückrechne, seine Kinder sind 2 und 7 Jahre alt, so hat er sehr wahrscheinlich in dieser Zeit auch seine Lebensgefährtin kennengelernt. In dieser noch gutgehenden Zeit konnte er ihr einiges anbieten und auch organisieren, hat aber nicht gemerkt, verdrängen wollen, oder unterschätzt, dass er sich auf einem finanziell absteigenden Ast befindet. Die vollendete Arbeitslosigeit durch das Schließen der Werften und vll. auch andere fehlende Aufträge haben ihn etwas aus der Bahn geworfen.

    Dass seine Frau mit dieser Situation nicht zufrieden sein kann, ist sonnenklar ! Die zwei Hunde + zwei Katzen + Leguane werden wohl nicht zum häuslichen Frieden beitragen, da sich jemand um sie kümmern muss ! Und sicherlich stehen da auch noch einige Mahnungen, unbezahlte Rechnungen und andere Forderungen durch Dritte im Raum ! Besonders interessant war, dass seine Frau ihn an diesem Abend mindestens drei- bis viermal angerufen hat ... er also immer zu mir: "Pssst ... bitte jetzt nicht sprechen !"
    • "Ja, Schatzi, ich komme gleich ... ja, musste gerade noch den Computer ein wenig reparieren !"
    • "Ja, ich habe doch gesagt, ich komme gleich ... okay, bin in einer Stunde wieder zurück !"
    • "Hör mal, ich habe keine Lust, wieder darüber zu diskutieren ... was ist denn jetzt schon wieder los ? 
     .... bla, bla, bla, hin und her, eine SMS nach der anderen geschrieben und abgeschickt, bis er dann auch mich höflich um den Heimweg gebeten hat: "Nicht böse sein, aber ich schmeiße dich jetzt raus, muss mit meinem Roller wieder nach Hause !"  - "Alles klar, darauf habe ich doch nur gewartet!"

    Manche seiner Erlebnisse und Gefühle kenne ich auch: zum Beispiel die Phase, wo man einen Höhenflug hat ... so einen hatte ich nämlich auch einmal im Leben nach dem erfolgreichen Bestehen des Anatomiekurses => innerhalb von nur zwei Wochen habe ich
    • die schriftliche Nachtprüfung in Psychologie
    • + eine mündliche Nachprüfung in Physik 
    • + Prüfung für Situs inklusive nachzuholendem Bewegungsapparat 

    • + Hirnkurs geschafft 
    • + gleichzeitiges Arbeiten in einer Chemiefirma (Reinigungsutensilien) 
    • + Versorgung eines Doppelhaushaltes + Garten (Pfarrer + Sohnemann, seitdem hasse ich es, weiße Hemden zu bügeln ;-)

    • + Freunde und Kumpels 
    • + Hin-und Herfahrerei mit dem Bus von Alsdorf nach Aachen
    ... und als wir dann alle nach den letzten Prüfungen mit den Nerven fix und fertig waren und uns kurz vor der Karnevalszeit im Bio-Institut getroffen haben und ein zu mir äußerst kritisch stehender Komillitone mich noch mit den Worten lobt: "Alle Achtung, Gratulation, hab dich wirklich unterschätzt !" ... ja, da war es geschehen um die innere geistige Bescheidenheit und Zurückhaltung: danach habe ich mich gefühlt, als wäre ich Einstein, Hawkins und Freud  in einer Person zusammen ... tja, darüber hinaus habe ich aber etwas ganz Wichtiges aus acht gelassen: der Mensch wird älter, vergesslich und gebrechlich, das Niveau zu halten, das ist das eigenlich Schwierige für jeden auf dieser Welt + die Kraft, der Elan und die finanziellen Mittel nehmen stetig ab, wenn man sich alleine im Studium versorgen muss !

    So gehe ich also nach Hause und sehe ein paar Parallelen und eindeutige Unterschiede zwischen ihm und mir und kann nur hoffen, dass sich er sich mit seiner Frau zusammenrauft um der Kinder willen ! 

    Ach ja, da war am Anfang noch eine junge Frau bei ihm und hat sich etwas "stuff" abgeholt, ist also nicht lange geblieben, zumal sie auf dem Sprung nach Münster war ... auf meine Verwunderung hin, dass ich mich in dieser kurzen Zeit so gut mit den Leuten verstehe und dass mir der Charakter und auch der hiesige Dialekt sehr gut gefällt, sagt sie nur: "Ist doch klar, wir Ostfriesen sind sehr freundlich und aufgeschlossen ", und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu, "... und manche sind auch hinterlistig, aber diese Leute wird du noch früh genug kennenlernen, damit du sie meiden kannst ;-)

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