Sonntag, 8. November 2009

10. Der Faktor Zeit in der Entwicklung

Außerordentlich wichtig ist,wie Tierexperimente bewiesen haben, für die Reifung und Entwicklung der Faktor Zeit. Das heißt, gewisse Reize oder andere Einwirkungen müssen von der Außenwelt zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt geboten werden, um einen Fortschritt möglich zu machen, der eben nur zu diesem Zeitpunkt erfolgen kann. Wenn zum Beispiel frisch geschlüpfte Küken zunächst in einem dunklen Raum gehalten werden, so sind sie später für immer weniger geschickt im Picken, weil dies hauptsächlich in den ersten Tagen und Wochen gelernt werden muss.

Der Tierpsychologe Konrad Lorenz hat in berühmten Experimenten - erstmals mit Wildgänsen- gezeigt, dass ihr Verhalten zu einem gewissen Zeitpunkt eine definitive Prägung erfährt: Das erste lebende Wesen, das die aus dem Ei schlüpfenden jungen Gänsen sehen, "nehmen" sie als Eltern "an" - sie folgen ihm, betteln es an. Normalerweise ist dieses Wesen eine Wildgans; ist es aber - im Versuch - ein Mensch, so bleiben die Wildgänse auf diesen "geprägt".

Von großer Bedeutung für Schlussfolgerungen auf Menschenkinder ist ein interessantes Experiment mit Mäusen: junge Mäuse wurden wiederholt in einen Käfig gebracht, in dem eine zum Kämpfen trainierte, besonders starke Maus sie angriff und prompt besiegte. Je jünger die Mäuse waren, die in dieser Weise frühe Niederlagen erlitten, desto zaghafter und furchtsamer verhielten sie sich auch noch als erwachsene Tiere. Ältere Mäuse jedoch, die früher andere Erfahrungen gemacht hatten und nun solche Niederlagen hinnehmen mussten, wurden nicht in demselben Grade eingeschüchtert.

Parallele Tatsachen kann ich aus meinen psychotherapeutischen Erfahrungen berichten. Wiederholt ließ sich eine extreme Aggressivität oder ein furchtsames Sich-Zurückziehen in Kampfsituationen auf ganz frühes "Training" zurückführen. Der eine Patient beispielsweise hatte eine Mutter, die schon den Zweijährigen ermunterte, zuzuschlagen, wenn ein anderes Kind ihm in den Weg kam, der andere dagegen stand unter dem Einfluss einer Mutter, die ihren Pazifismus in einem Grade vertrat, dass sie ihrem Vierjährigen verbot, sich je in eine Prügelei einzulassen, und ihm einprägte, davonzulaufen, sobald jemand ihn angreife.

Aggressivität und Furchtsamkeit haben natürliche auch noch andere Wurzeln als diese. Wichtig ist jedoch, sich der bedeutsamen Rolle früher Anregungen und Versagungen bewusst zu sein, und das um so mehr, als es sich bei solchen frühen Entwicklungen auf das Kind meist um Dinge handelt, die den Eltern durch Gebrauch und Tradition oder aus dem Kontakt mit ihrer Umgebung bekannt sind oder werden. Am wichtigsten aber sind von Anfang an gewisse seelische Einwirkungen, Mutterliebe vor allem, und dem jeweiligen Alter des Kindes entsprechenden Anregungen.

Doch auch später im Leben macht man immer wieder die Erfahrung, dass man gewisse Ding zu einem bestimmten richtigen Zeitpunkt haben muss - andernfalls wird es "zu spät".

"Zu spät" für was ?

Für das Zustandekommen gewisser innerer Entwicklungsfortschritte. So gehören Liebe, Ehe, Kinderzeugung, beruflicher Erfolg zu diesen gesunden grundlegenden Erfahrungen, die zu gewissen Zeitpunkten notwendiger erscheinen als alles andere. Die meisten sind seelischer Natur.

Eine wichtige Ausnahme macht die Sexualität ! Die Sexualbedürfnisse des Menschen sind zwar in ihrer Entwicklung in der Pubertät, die durch Umgebungseinflüsse wesentlich zu ihrer gesunden Entfaltung bei. Dies gilt ganz besonders für die Entwicklung in der Pubertät, die durch Umgebungseinflüsse verfrüht, verlangsamt, in gesunde oder ungesunde Bahnen gelenkt werden kann.

Allgemein gesprochen kann jedenfalls nicht genug betont werden, dass für die gesunde Entwicklung die Erfahrungen der ersten Lebensjahre von größer Bedeutung sind.

Und zwar ist es heute erwiesen, dass erstens früh erworbene Gewohnheiten besonders beharrlich sind, und dass zweitens der Erwachsene dauernd unter dem Einfluss dessen bleibt, was er als Kind gesehen hat. Für Eltern und Erzieher ist, so scheint mir, ein solch definitiver Befund von unschätzbarem Wert.

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