Sonntag, 8. November 2009

8. Reifung, Erfahrung und Entwicklung

Experimente mit Kleinstkindern, die zwar nicht völlig, aber doch weitgehend solcher Reize beraubt waren, konnten von L. Danzinger und L. Frankl in Albanien durchgeführt werden. Sie fanden dort in Gebirgsdörfern Säuglinge auf schmale Holzwiegen gebunden, die in einer dunklen Ecke der Lehmhütte standen. Durch Bandagen um Arme und Beine und den ganzen Körper waren die Babys während ihres ersten Lebensjahres an jeder freien Bewegung gehindert. Nur wenn das Kind gebadet oder gelegentlich einem Besucher gezeigt wird, holt man es aus einer Ecke und von seinem Bett.

Wie benimmt sich nun ein solches Baby, wenn es von den Banden befreit ans Licht gebracht und ihm ein Spielzeug dargeboten wird ? Zunächst ist das Kind völlig inkativ. Man muss es berühren und ermuntern, das Spielzeug zu ergreifen. Dann zeigt sich, dass zum Beispiel ein Fünfmonatiges einen Gegenstand berührt oder die Arme nach ihm nur so ausstreckt, wie das normale Dreimonatige es tut. Mit sieben Monaten ist die Greifbewegung noch schlecht koordiniert, mit zehn Monaten streckt das Kind zwar beide Hände nach einer Klapper aus, doch fahren die Hände an der Klapper vorbei, ohne sie ergreifen zu können.

Was wird nun aus solchen Kindern später ? Auch an allen älteren Kindern war eine dauernde Lähmung der Aktivität und mangelndes technisches Geschick zu beobachten. Aus solchen Beobachtungen lässt sich die grundlegend bedeutsame Regel ableiten, dass die Entwicklung weitestgehend von den in der frühesten Kindheit gebotenen Entwicklungsmöglichkeiten abhängt.

Heute ist die Wissenschaft überreich an Befunden, die feinere Einzelheiten dieser Regel erkennen lassen. Wichtig ist zum Beispiel die Tatsache, dass einige Leistungsgebiete mehr, andere viel weniger von gebotenen Reizen abhängen.

Ein Beispiel relativer Unabhängigkeit von den gegebenen Umständen ist die Entwicklung des Gehens. Alle menschlichen Säuglinge laufen im Alter von ungefähr einem bis spätestens anderthalb Jahren, wenn nicht irgendeine organische oder seelische Störung sie daran hindert. Andere Verhaltensweisen hingegen, in denen es nicht nur auf die Beherrschung des Körpers als solchen, sondern auf die Bemeisterung von Material, auf die Kenntnis der Dingwelt, auf das Verstehen von Menschen und auf die Entwicklung der Innenwelt ankommt, bedürfen angemessener Reize, der Unterstützung also durch Belehrung und Anleitung und des liebevollen Kontaktes mit anderen, um sich adäquat und gesund zu entwickeln.

In anderen Worten ausgedrückt: Die Entwicklungsfortschritte des Menschen sind mehr noch als die aller anderen Lebewesen fast niemals ausschließlich ein Resultat der Reifung, sondern auch der Erfahrung. Aus diesem Grunde unterscheiden wir die Ausdrücke Reifung und Entwicklung.

Reifungsbedingt ist am Entwicklungsfortschritt, was der Organismus als solcher dazu beiträgt. Zum tatsächlichen Entwicklungsfortschritt gehört jedoch außer der Reifung auch die Umwelteinwirkung, welche die Reifung in Erfahrung umwandelt.

Wie steht es aber mit der Reifung später im Leben ?


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Abb 9-12:
  • Vier Stadien der Fortbewegung während des ersten Lebensjahres
  • 16, 28, 40 und 52 Wochen !

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