Montag, 2. November 2009

7. Grundtatsachen der biologischen Reifung

Viel schwerer zu überschauen als die Tatsache des Wachstums sind die der biologischen Reifung. Wegen ihrer außerordentlichen Tragweite für den Verlauf des Lebens verdienen sie sorgfältigste Betrachtung.

Unter Reifung verstehen wir eine bestimmte Art von Veränderungen, die in den körperlichen Strukturen und Funktionen ebenso wie im Verhalten von Lebenwesen ihr ganzes Leben hindurch stattfinden. Diese Veränderungen stellen eine einsinnige Abfolge, oder wie der Fachausdruck lautet, Sequenz dar, wobei "einsinnig" bedeutet, dass die Abfolge nicht umkehrbar ist, und zwar deshalb, weil in echten Reifungsvorgängen jede der aufeinanderfolgenden Phasen die jeweils vorausgehende zur Bedingung hat.

Zu den wichtigsten Reifungsvorgängen gehört die Reifung der Körperbewegungen, zum Beispiel der Greifbewegungen. Berührt man etwa den Handteller eines Neugeborenen mit einem Finger, so schließt das winzige Händchen sich sofort um diesen Gegenstand. Das ist der sogenannte Greifreflex, mit dem die Greifbewegungen beginnen. Er ist einer von unzähligen Körperreflexen, die dem Menschen angeboren sind.

6b. Palmar grasp reflex / reaction (chaste version)
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Außer den Reflexen lässt das Neugeborene eine große Anzahl anderer ungeordneter und zielloser Bewegungen erkennen, die man Massenbewegungen nennt; es handelt sich um unspezifische Reaktionen auf alle möglichen inneren und äußeren Reize. Unter diesen Massenbewegungen gibt es auch Armbewegungen, aber sie sind ziellos, ungerichtet. Erst von etwa drei Monaten an streckt das Babys einen Arm nach einem Gegenstand aus, den es in einiger Enfernung sieht; mit etwa vier Monaten ergreift es einen Gegenstand, den man ihm nahe hinhält, und mit etwas fünf Monaten kann es alle diese Handlungen kombinieren: das Ausstrecken des Armes in der Richtung des gesehenen, etwas entfernten Gegenstandes und das Ergreifen sowie Heranziehen dieses Gegenstandes.

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Die Sequenz dieser Leistungen ist deshalb reifungsbedingt, weil jedes neue Zusammenwirken verschiedener Organe bei zunehmend komplizierten Handlungen die Entwicklung einfacherer Leistung voraussetzt: Zunehmende Koordination und Komplexität der Handlungen kennzeichnen die Reifungsfortschritte.

Die genannten Fortschritte des Greifens sind, wie gesagt, mit etwa drei, vier und Monaten zu erwarten. Aber gibt es da nicht große individuelle Unterschiede ?

Hierzu muss folgendes gesagt werden: Die Sequenz als solche ist unveränderbar, weil sie durch die Entfaltungsmöglichkeiten bestimmt ist, die dem Organismus gleichsam fest eingebaut sind, weshalb man von Strukturgesetzen spricht. Das tatsächliche Auftreten der jeweiligen neuen Leistung jedoch setzt angemessene Umgebungseinwirkungen voraus, und zwar sowohl hinsichtlich des Zeitpunktes wie der individuellen Eigenart und der Normalität. Wir sprechen in diesem Fall von Funktion und können somit sagen, dass in der Funktion außer den Strukturgegebenheiten auch die Lebensbedingungen zum Ausdruck kommen.

Ein Beispiel: würde ein Baby in einem völlig leeren Raum gehalten und ihm niemals auch nur ein einziger Gegenstand zum Erblicken, Betasten, Ergreifen als "Reiz" dargeboten, dann würde zwar sein Organismus reifen (Strukturgesetz), aber seine Koordinationsfähigkeit (die Funktion) wäre beeinträchtigt.

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