Naturwissenschaftler und Maschinenbaustudenten beobachten Zellen, Organismen oder Produktionsabläufe und halten die Ergebnisse in ihren Diplomarbeiten fest. Geisteswissenschaftler stehen hingegen oft vor dem Problem, dass ein Großteil der Weltliteratur oder der Geschichte bereits untersucht wurde. Wer sich trotzdem einem kaum oder gar nicht erforschten Thema widmen will, muss deshalb Erfindungsreichtum an den Tag legen. So ist es auch Anne-Karoline Distel ergangen. Sie ist Germanistin aus Leidenschaft, besonders die Literatur des Mittelalters hat es ihr angetan.
Allerdings muss man gerade da besonders findig sein, wenn man sich in der Abschlussarbeit mit Texten und Phänomenen beschäftigen möchte, die noch nicht totgeforscht wurden. „Ich hatte ein Seminar über Handschriften besucht und dafür ein Referat über eine alte Handschrift gehalten, die sich mit der Kindslage im Mutterleib beschäftigt hat.“ Durch das Referat ist Anne auf die Idee gekommen, ihre ganze Magisterarbeit dem Thema zu widmen. „Frauenheilkunde frühneuhochdeutsch - Editionen fünf frauenheilkundlicher Handschriften und Wortschatzuntersuchungen“ war schließlich der Titel der Arbeit, die so umfangreich war, dass Anne sie in zwei Bände verpacken musste. „Der Professor, bei dem ich die Magisterarbeit geschrieben habe, fand das Thema sehr gut. Er hat mich sogar mal einem anderen Sprachhistoriker mit den Worten ‚Das ist Frau Distel, unsere gynäkologische Philologin’ vorgestellt.“
Bei Kollegen im eigenen Fachgebiet kommen solch ausgefallene Arbeiten, die sich sehr intensiv mit den Texten beschäftigen, meist gut an. Anders ist das jedoch oft bei fachfremden Wissenschaftlern und Studenten. Wenn diese sich einem ganz anderen Forschungsbereich verschrieben haben – Informatik, Drucktechnik, Wirtschaft – haben sie meist kein Verständnis für die wissenschaftlichen Verschrobenheiten der Geisteswissenschaftler. Das schlägt sich nicht nur in hitzigen Diskussionen an den Unis nieder. Geisteswissenschaftler sehen sich generell in der Situation, sich für ihr Studium rechtfertigen zu müssen. Wenn ein Theaterwissenschaftler über die Ästhetik bei Live-Rollenspielen forscht oder ein Philosophiestudent sich über den Sinn der Farbe grün auslässt, fragt sich manch einer, was das der Menschheit nutzen soll.
Das wirft wiederum die Frage auf, ob jedes Studium tatsächlich einen Mehrwert haben muss oder ob auch das Forschen ohne ein praktisches Ziel erlaubt sein darf: Ist die Doktorarbeit eines Mediziners a priori wertvoller als die eines Wirtschaftswissenschaftlers? Und hat dessen Arbeit wiederum mehr Wert als die eines Orientalisten? Über diese Frage ließe sich vermutlich eine ganze Doktorarbeit schreiben – in Philosophie natürlich.
(Autorin: mag)
2 Kommentare:
Witzig, über sich selbst in einem Blog zu lesen! Ich wundere mich, woher die Informationen stammen, aber sie stimmen und das ist die Hauptsache.
die "gynäkologische Philologin"
... sehr interessanter Text, echt schade, dass der Link nicht mehr klappt ...
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